Tatsache ist, dass es auch Präsident Wladimir Putin und der politischen Elite, die in seinem Schlepptau an die Macht kam, nicht gelungen ist, die russischen Bürger vor dem Terrorismus zu schützen. Die aktuelle Welle von Terrorakten erfordert vor allem eines: ein überzeugendes Anti-Terror-Konzept. Denn die Islamisten versuchen nach wie vor, ihr Hauptziel zu erreichen: die Welt in einen "Heiligen Krieg" zu stürzen. Die Unabhängigkeit Tschetscheniens spielt dabei nur eine Nebenrolle. Das Land im Nordkaukasus bündelt wie ein Brennglas den Krieg, um ihn dann in die ganze Region auszustrahlen. Die Ideale des Befreiungskrieges sind vergessen. Das Blutbad im nordossetischen Beslan hat der Welt noch einmal das blutrünstige Gesicht des islamistischen Dschihad vor Augen geführt. Offensichtlich wurde dabei zugleich die Ohnmacht des russischen Staates. Besonders peinlich muss es für den Kreml-Herrscher sein, dass es der neuen Elite aus Geheimdiensten und Armee nicht gelingt, das Problem in den Griff zu bekommen. Nach dem 11. September habe sich in den USA kein einziger Terrorakt mehr ereignet, kommentierte die russische Zeitung "Iswestija" bitter. In Russ-land dagegen seien Berichte über Terrorakte so selbstverständlich wie der tägliche "Wetterbericht".
Unschöne Begleitmelodien
Bei der Terroraktion eines tschetschenischen Selbstmordkommandos in einem Moskauer Theater hatten vor zwei Jahren 800 Menschen ihr Leben lassen müssen. Dabei ist die unschöne Begleitmelodie "selber schuld" in den westlichen Medien nicht zu überhören, wenn es um Terrorakte in Russland geht. Frei nach der Devise: Die Tschetschenen nehmen doch nur Rache für ihre gefallenen Familienangehörigen und reagieren auf die willkürlichen Übergriffe der russischen Soldaten und Sicherheitskräfte. Die wiederum wurden von ihren Oberbefehlshabern, von Präsident Boris Jelzin, dann von Wladimir Putin, in den Nordkaukasus geschickt mit dem Ziel, den Tschetschenen ihr Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit auszutreiben. Auf ihre Kriegsverbrechen, wie Flächenbombardements, denen bislang 200.000 Menschen zum Opfer fielen, antworten die Tschetschenen mit ähnlichen Gräueln. Und verspielen damit die letzten Sympathien für ihren Freiheitskampf.
Der 1990/91 begonnene Kampf für die Unabhängigkeit Tschetscheniens wurde nicht von der ganzen Bevölkerung unterstützt. Präsident Dschochar Dudajew proklamierte die Unabhängigkeit, und Moskau zog stillschweigend seine Truppen aus der Autonomen Republik ab. Waffen und Munition blieben im Land. Boris Jelzin sicherte sich seinen Thron im russischen Riesenreich durch die berühmte Erklärung an die 89 Subjekte der Föderation: "Nehmt so viel Souveränität, wie viel ihr wollt". Tschetschenien wollte alles. Unterdessen waren die neuen "demokratischen" Herrscher viel zu sehr damit beschäftigt, das Eigentum Russlands unter sich aufzuteilen, was 1994 zu einer tiefen Wirtschaftskrise führte. Um das unzufriedene Volk davon abzulenken, schuf Moskau ein neues Feindbild: die "tschetschenische Mafia". Als russische Truppen an der Grenze Tschetscheniens zusammengezogen waren, bat Präsident Dudajew um ein Treffen mit Jelzin. Zu spät. Denn im November 1994 hatte der den Befehl gegeben, das abtrünnige Mitglied der Russischen Föderation anzugreifen. Ironie der Geschichte: Ausgerechnet mit einem verfassungswidrigen Vorgehen, dem Einsatz der russischen Armee gegenüber den eigenen Bürgern, sollte "die Verfassung wiederhergestellt" werden. Begleitet wurde dieser erste Krieg, den die demokratische Regierung führte, von Massenprotesten in Russland. Längst ist vergessen, dass sich russische Generäle weigerten, in diesen Krieg zu ziehen.
Die nordkaukaukasischen Völker beobachteten die politische Entwicklung in Grosny mit Misstrauen. Zwar rief der russische Vernichtungskrieg (1994 bis 1996) Mitleid mit den tschetschenischen Flüchtlingen hervor, zu weiter reichenden Solidaritätsaktionen oder gar militärischem Eingreifen waren die Nachbarvölker jedoch nicht bereit. Obwohl die Tschetschenen Russ-land 1996 schließlich militärisch besiegten, waren sie die eigentlichen Verlierer: Es fehlte an einer politischen Elite, die fähig gewesen wäre, ein unabhängiges Staatswesen aufzubauen. Zwar konnte Aslan Maschadow die mit Unterstützung der OSZE organisierten Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden. Dem damals noch gemäßigten Politiker gelang es jedoch nicht, dem Land den ersehnten Frieden zu bringen. Die endgültige Isolierung der politischen Machthaber in Grosny begann, als sie Tschetschenien lokalen kriminellen Potentaten, die vom Drogen- und Menschenhandel lebten, überlassen mussten. Denn sie selbst waren wegen der fehlenden Staatsgewalt nicht in der Lage, ihren Herrschaftsanspruch im ganzen Land durchzusetzen. Die Einführung der islamischen Gesetzgebung und die Proklamation der Islamischen Republik Itschkeria beschleunigten den Zerfall.
Nachdem die Islamisierung ihrer Heimat gelungen war, hatten sich einige einflussreiche tschetschenische Krieger den Export des Gottesstaates in die Region auf ihre Fahnen geschrieben. Ihr Schlachtruf lautete "Kampf dem Kreuzzug der Christen und Juden gegen den Islam". Damit lieferten sie eine Neuinterpretation des "Heiligen Krieges" im Kaukasus und einen wichtigen Hinweis für die direkte ideologische Verbindung zu den Taliban und zu arabischen islamischen Fundamentalisten. So nahm es kein Wunder, dass die Islamische Republik Itschkeria nur von einem Staat der Welt anerkannt wurde: von Taliban-Afghanistan. Darüber hinaus erhielten die militärischen Kommandos der Tschetschenen finanzielle und moralische Unterstützung insbesondere aus Saudi-Arabien, Kuwait, den Arabischen Emiraten und Pakistan. Neben der materiellen Hilfe über die Wohltätigkeitsorganisationen und Stiftungen wurden auch Terroristen ausgebildet. Robert Baer, langjähriger Resident der CIA im Nahen und Mittleren Osten, berichtet dazu Einzelheiten in seinem Buch "Die Saudi-Connection. Wie Amerika seine Seele verkaufte" (Bertelsmann 2004). Danach wurden allein 1998 in einem saudi-arabischen Lager 40 Tschetschenen zu Gotteskriegern ausgebildet. Intensive Schulungen in der radikalen, "wahhabitischen" Lesart des Islam begleiteten ihre Ausbildung. Das bestätigte auch Hadschi Achmed Kadyrow, zunächst Hauptmufti von Tschetschenien (1996 bis 2000), später tschetschenischer Präsident. Aktiv gefördert wurden die Terroristen außerdem von der islamischen Diaspora in Europa. So setzte Anfang Januar 2003 die US-Regierung eine der größten amerikanischen Wohltätigkeitsorganisationen auf die "schwarze Liste" der Al Qaida-Unterstützer. Ihre Büros in den USA, Russland, China, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Aserbaidschan, Georgien und Pakistan wurden geschlossen und ihre Konten eingefroren. Die Organisation hatte nicht nur die terroristische Tätigkeit Al Qaidas finanziert, sondern arbeitet eng mit den Islamisten in Tschetschenien zusammen, hieß es in Washington. Auch Freiwillige aus Deutschland nahmen am Kampf der Tschetschenen gegen Russland teil. Eine wichtige Rolle spielen islamistische Kreise in der Türkei.
Den Preis für diese Entwicklung zahlen in erster Linie die Protagonisten einer säkularen Gesellschaft. Denn die islamistischen Gruppen halten nichts von friedlicher Konfliktbeilegung und sind grundsätzlich bereit, die Idee des "Gottesstaates" auch mit Gewalt durchzusetzen: Deshalb schalteten sie zuerst gezielt ihre liberaleren religiösen Gegner aus und ermordeten den Mufti von Dagestan. Dagegen hatte Achmed Kadyrow zunächst Glück: Er überlebte mehrere Attentate. Ihm wurde zum Verhängnis, dass er sich offen gegen die so genannten "Wahhabiten" gestellt hatte. Anschläge mussten auch andere islamische Geistliche erdulden, weil sie sich gegen die aus Saudi-Arabien importierte radikale Bewegung des Islam aussprachen. Kadyrow, der während des ersten Krieges für die Unabhängigkeit gekämpft hatte, distanzierte sich von Präsident Maschadow wegen der Einführung der Scharia in Tschetschenien. "Als geistlicher Führer des Landes war ich dagegen", erklärte er. "Maschadow und seinesgleichen führen keinen Dschihad, sondern spielen mit dem Schicksal eines ganzen Volkes". Kadyrow wurde am 9. Mai 2004 durch einen Terrorakt getötet.
Die blutigen Terroranschläge in Russland und der Versuch des tschetschenischen Warlords Schamil Bassajew, gegen den Willen Maschadows auch in Dagestan einen Gottesstaat zu gründen, provozierten schließlich im September 1999 den zweiten Tschetschenien-Krieg. Mit dem "Kampf gegen den Terror" verfolgte die in Moskau herrschende politische Gruppe mit diesem neuerlichen Feldzug mehrere Ziele gleichzeitig: Zunächst gelang es ihr, während des Wahlkampfes für die Staatsduma politisches Profil zu gewinnen und damit ihre Macht zu festigen. Zugleich traten die Korruptionsskandale um die "Kreml-Familie" in den Hintergrund. Außerdem bekam das Verteidigungsministerium die erhoffte zweite Chance, um sich für die "Erniedrigung" aus dem ersten Tschetschenien-Krieg zu revanchieren. Ebenso wichtig war aber, dass der Kreml mit der Zerstörung Grosnys ein unübersehbares Zeichen im Nordkaukasus setzte. Die russische Zentralmacht hatte damit allen potenziellen Separatisten eindringlich vor Augen geführt, womit sie im Falle eines Aufstandes zu rechnen hätten. Mit der militärischen Niederlage Tschetscheniens erreichte der Konflikt jedoch eine neue Stufe: An die Stelle des Partisanen-Krieges traten zunehmend Terroranschläge, nicht nur in Moskau, sondern auch im Nordkaukasus.
Jedoch: Die Geschichte des Zerfalls der Sowjetunion infolge einer repressiven Politik gegenüber den Nationalbewegungen im Kaukasus hat gezeigt, dass eine vermeintliche Politik der Stärke und der Machtdemonstration auch scheitern kann. Insofern legt die Entwicklung den Schluss nahe, dass in dem Maße, in dem die Völker im Nordkaukasus unterdrückt werden, auch antirussische Ressentiments zunehmen.
Als vorrangige Aufgabe sieht Putins EU-Beauftragter Sergej Jastrschemskij die Rückkehr Tschetscheniens in das Rechtssystem der Russischen Föderation. Der Zeitung "Das Parlament" sagte er: "Wir müssen Separatisten und Terroristen ihren Nährboden entziehen. Allerdings haben wir es mit Problemen zu tun, die sich über ein ganzes Jahrzehnt angesammelt haben. Einige Jahre waren die Bürger dort überhaupt ohne Gesetze beziehungsweise einem nicht anerkannten Regime und der Scharia ausgeliefert - mit dem ganzen Unrecht, das daraus entstand. Dieses Problem ist für uns in kurzer Zeit schwer zu lösen. Denn inzwischen ist eine Generation herangewachsen, die nicht nur kein Russisch spricht, sondern selbst auf Tschetschenisch nicht schreiben kann. Unter dem kriminellen Regime waren die Schulen geschlossen". Jastrschemskij, jahrelanger Tschetschenien-Beauftragter des Kremls, zeigt sich dennoch zuversichtlich: Zuerst müsse Moskau dort Stabilität schaffen. Dort würden "die Exekutive, das Parlament und ein eigenes Gerichtswesen existieren, so dass die Tschetschenen selbst ihre Republik stabilisieren können". Ein wirtschaftliches Aufbauprogramm sei nötig, da die Republik die höchste Arbeitslosenquote in Russland aufweise. Aus diesem Kreis würden viele Terroristen rekrutiert. Schließlich seien jahrzehntelang keine Investitionen nach Tschetschenien geflossen. Gleichzeitig müssten die Terroristen vernichtet werden. Aschot Manutscharjan