10.2.3.2 Eine Sicht aus dem
Süden
In der Enquete-Kommission wurden auch
Positionen aus dem Süden vorgetragen und kontrovers
diskutiert, die von vielen NGOs und auch von Regierungen von
Entwicklungsländern getragen werden. Sie sehen die Wirkungen
der Globalisierung und die Entwicklung der globalen Institutionen
– vor allem IWF, Weltbank und WTO – sehr viel
kritischer als das in den industrialisierten Ländern
üblich ist und stehen auch dem Konzept der
Global Governance skeptisch bis ablehnend gegenüber (vgl.
etwa Bello 2001, Khor 2000, Anderson 1999). Diese Positionen sollen
im Folgenden vorgestellt werden, ohne dass diese von der Gesamtheit
der Kommission unterstützt würden.
Aus dieser Sicht gab es im Verhältnis
zwischen den entwickelten Industrieländern und den meisten
Entwicklungsländern nach der Befreiung letzterer aus
kolonialer Abhängigkeit nur eine kurze Phase des Fortschritts,
in der auch die Industrieländer die Notwendigkeit einer Neuen
Internationalen Wirtschaftsordnung anerkannten, die stärker
auf die Bedürfnisse der Entwicklungsländer ausgerichtet
sein sollte. Seit Mitte der 70er Jahre sei diese Phase aber durch
einen Prozess der Unterordnung des Südens unter die Interessen
des Nordens ersetzt worden, der bis heute anhalte und in den
letzten Jahren noch intensiviert worden sei. Er habe mit der
Demontage der Entwicklungskonzeption der Vereinten Nationen
begonnen, sich über die Strukturanpassungsprogramme des IWF
fortgesetzt und mit der Errichtung einer Welthandelsorganisation
Mitte der 90er Jahre einen neuen Umsetzungsmechanismus erhalten.
Dabei sei insbesondere der IWF zur obersten wirtschaftspolitischen
Aufsichtsinstanz des Nordens gegenüber dem Süden
umfunktioniert worden.
Im Ergebnis dieser Unterordnung des
Südens unter die Interessen des Nordens habe die schnelle
Öffnung für den internationalen Handel und Kapitalverkehr
in vielen Entwicklungsländern große Teile der
Landwirtschaft, des Handwerks und der heimischen Industrie
ruiniert, Hunderte von Millionen Menschen in die Armut getrieben
und die sozialen Verhältnisse in bislang nicht da gewesener
Weise polarisiert. Mit der Institutionalisierung der
Freihandelsideologie – der mit guten Gründen keines der
heutigen Industrieländer in der Phase seiner Entwicklung
gefolgt sei – in der WTO solle diese Unterordnung jetzt
weiter vertieft werden. Die Konstruktion der globalen Institutionen
mache sie – beim IWF und der Weltbank schon durch die
Verteilung der Stimmrechte, in der WTO durch die erdrückende
personelle und technische Übermacht der Industrieländer
– faktisch zu einem Instrument des Nordens gegenüber dem
Süden. Von Demokratie, wie sie in Institutionen mit globaler
Verantwortung erforderlich sei, könne daher keine Rede sein.
Im Gegenteil, in den letzten Jahren habe sogar das Konzept der
militärischen Durchsetzung der Interessen des Nordens eine
neue Akzeptanz gewonnen. Die Hierarchisierung der globalen
Institutionen habe eine besondere Zuspitzung in den G7/G8
Gipfeltreffen gefunden, in denen die globalen
Führungsmächte sich abstimmten. Aus dieser Perspektive
erscheinen die aktuell diskutierten Reformen von IWF und Weltbank
und auch das Konzept
Global Governance vor allem als der Versuch, die bestehenden
Verhältnisse angesichts zunehmender weltwirtschaftlicher
Instabilitäten, großer und in immer schnellerem Tempo
ablaufender Finanz- und Wirtschaftskrisen und unübersehbar
wachsender Kritik und sozialer Bewegungen gegenüber den
zunehmend als undemokratisch und ungerecht empfundenen
Zuständen zu stabilisieren und die hierarchischen
wirtschaftlichen und politischen Strukturen des Weltsystems zu
erhalten. Ein Beleg dafür sei etwa, dass der IWF trotz aller
Reformprosa und trotz angeblicher Hauptorientierung auf die
Bekämpfung der Armut heute gegenüber Argentinien die
gleiche neoliberale Konditionalitätenpolitik verfolge wie in
der zweiten Hälfte der 80er Jahre gegenüber den
asiatischen Krisenländern.
Alternativen: Demokratisierung oder
Deglobalisierung ?
Aus dieser kritischen Einschätzung
lassen sich verschiedene politische Schlussfolgerungen ziehen. Sie
wurden in der Enquete-Kommission diskutiert und waren auch
Gegenstand intensiver Diskussionen auf dem zweiten Weltsozialforum
in Porto Alegre im Februar 2002, auf dem die Positionen des
Südens in besonderer Weise vertreten waren. Dabei wurden v.a.
zwei Alternativen debattiert:
Auf der einen Seite wird gefordert, dass die
bestehenden globalen Institutionen von Grund auf demokratisiert
werden müssten, wenn sie ihrem Anspruch auf globale
Verantwortung gerecht werden sollen. Demokratisierung müsse
sich dabei ebenso auf eine Neuverteilung des Stimmrechtes und der
Ressourcen in den globalen Institutionen wie auf eine
Neuformulierung ihres Auftrages richten, bei dem die Entwicklung
der Länder des Südens im Vordergrund stehen müsse.
Institutionen wie Weltbank und IWF müssten nicht nur eine
angemessenere Kreditversorgung der Länder des Südens
sicherstellen, sondern auch durch geeignete Beschränkungen
dafür sorgen, dass die internationalen Finanz- und
Handelsströme nicht zur Destabilisierung und zu Krisen in den
Entwicklungsländern führen.
Auf der anderen Seite wird bezweifelt, dass
eine derartige Demokratisierung in absehbarer Zeit politisch
gelingen kann und daher eine „De-Globalisierung“
gefordert. Hinter diesem befremdlich klingenden Wort steckt die
Vorstellung, dass es angesichts der zementierten
Machtverhältnisse in den globalen Institutionen sinnvoll sei,
diesen möglichst viel Kompetenz zu entziehen und sie dadurch
zu unterlaufen, dass Länder einer Region ohne Rückgriff
auf und Aufsicht durch IWF und WTO intensiver wirtschafts- und
währungspolitisch zusammenarbeiten, um ihre lokalen und
nationalen produktiven Potenziale zu entwickeln und sich vor
Handels-, Finanz- und Währungsattacken zu schützen. Eine
solche Politik solle sich vor allem auf eine Stärkung des
Binnenmarktes ausrichten und politische Rahmenbedingungen setzen,
die sozialer Sicherheit, Gerechtigkeit und Solidarität Vorrang
vor Markt-effizienz und Kostenminimierung verschaffe. Hinsichtlich
internationaler Institutionen plädiert diese Position für
ein pluralistisches System, d.h. für eine Dezentralisierung
und gleichberechtigte Zusammenarbeit verschiedener regionaler
Organisationen.
Aus Sicht dieser Globalisierungskritik steht
die deutsche Politik nicht vor der Notwendigkeit, sich zwischen
diesen beiden Alternativen entscheiden zu müssen: Soweit sie
sich der kritischen Einschätzung der bestehenden globalen
Institutionen nicht entziehen wolle, könne sie beide Wege als
sinnvoll akzeptieren und mit ihren Mitteln unterstützen.
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