6.2.4
Vereinbarkeit von Arbeit und Lebensgestaltung16
Das
Aufrechterhalten des männlichen Ernährermodells ist
kontraproduktiv, da es nicht mehr den realen Lebensbedingungen
vieler Familien entspricht. Die veränderten Erwerbsmuster von
Frauen sind nicht rückgängig zu machen. Notwendig ist
vielmehr eine Anpassung des Systems an veränderte, moderne
Gesellschaften. Neue Formen von Arbeitsgestaltung und
Arbeitsorganisationen (Flexibilisierung, projektbezogene Arbeit,
Anforderungen an Präsenzbereitschaft im Betrieb etc.) haben
zur Folge, dass das Bild von traditioneller Arbeitsteilung
längst verzerrt und die klassische Trennung von Arbeits- und
Lebensspähre zunehmend aufgehoben wird. Daraus erwachsen
einerseits neue individuelle Handlungsspielräume und
Zukunftsoptionen, anderseits entstehen neue Zwänge zur
Flexibilisierung und Ökonomisierung der Lebensorganisation.
Bei den Auswirkungen auf die alltägliche Lebensgestaltung von
Individuen und Familien geht es nicht mehr um die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie, sondern insgesamt um das Thema
„Work-Life-Balance“ – die Balance von
Erwerbstätigkeit und privater Lebensführung in
alltagspraktischer und berufsbiographischer Perspektive. Die
Entstrukturierung gesellschaftlicher Abläufe, die individuell
zu bewältigende Intensivierung von Arbeit und Aufgaben und die
zunehmenden räumlichen und zeitlichen
Mobilitätsansprüche stellen Individuen und Familien vor
ganz neue Probleme.
Die Erhöhung
der Frauenerwerbsquote ist aufgrund der längerfristigen
Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials und im Hinblick auf
die demografische Entwicklung in Deutschland von großer
Bedeutung. Diese Zusammenhänge haben auch in der
öffentlichen Diskussion bereits zu einem Umdenken
geführt. Eine Schlüsselfunktion bei der Erhöhung der
Frauenerwerbstätigkeit spielt die Umverteilung von bezahlter
und unbezahlter Arbeit, damit Männer und Frauen Beruf und
Familie besser vereinbaren können (vgl. Kapitel 4.4).
Neben Belgien,
Dänemark und Frankreich sind die Niederlande, Norwegen und
Finnland zu „Pionierländern“ geworden, in denen
eine forcierte Enttraditionalisierung der familiären
Arbeitsteilung beobachtet werden kann (Goldmann 2002). Vergleicht
man die Situation in den europäischen Ländern, so zeigt
sich, dass ein positiver Zusammenhang zwischen der
Frauenerwerbsquote und der Zahl der Kinder existiert. Die
nordischen Länder, die seit langem egalitäre
Erwerbsmuster institutionell unterstützen, haben eine hohe
Erwerbsquote und eine hohe Geburtenrate (z. B. Finnland 1,7;
Dänemark 1,75; Schweden 1,7 (Eurostat 2001), während die
südlichen Länder mit einer niedrigen Frauenerwerbsquote
in den letzten Jahren einen drastischen Rückgang der
Geburtenzahlen zu verzeichnen haben. So fielen etwa die
Geburtenraten in Spanien von 1,56 in 1986 auf 1,15 in 2000 und in
Portugal von 1,66 (1986) auf 1,44 (2000). Die Geburtenrate in
Deutschland liegt mittlerweile auf einem Tief von 1,4. Es besteht
weiterer Forschungsbedarf zur Frage, welche Konsequenzen neue
Arbeitsformen und die Veränderungen im Verhältnis von
Erwerbsarbeit und Arbeit in anderen Lebensbereichen für beide
Geschlechter haben, welche neuen Inklusions- und Exklusionsprozesse
sich damit verbinden und welche Konsequenzen daraus für eine
moderne wohlfahrtsstaatliche Politik auf europäischer sowie
internationaler Ebene resultieren.
Ein wichtiges
Thema in einer Folge-Enquete-Kommission in der nächsten
Legislaturperiode sollte sich mit der Frage beschäftigen,
inwieweit die Beschleunigung von wirtschaftlichen Prozessen auch
gesamtgesellschaftlich eine Erhöhung des Zeitdrucks nach sich
zieht und damit bestehende Ungleichheiten zwischen Frauen und
Männern weiter vertieft werden. Dies zeigt sich beispielsweise
in Führungspositionen, in denen die unterschiedlichen
zeitlichen Anforderungen von Beruf und Familie schwieriger zu
vereinbaren sind.
Aber der erste
Schritt auf dem Weg zu einer anderen Prioritätensetzung in der
globalen Ökonomie ist ein verändertes Verständnis
von Ökonomie und Politik.
16 Dieses Kapitel basiert auf einem Gutachten von
Goldmann (2002).
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