9.2.1.2 Indirekte
Einflussfaktoren auf das Bevölkerungswachstum
Indirekte
Faktoren
Die
Verwirklichung der vorgenannten Potenziale hängt von den
indirekten Einflussfaktoren ab, zu denen u.a. Armut im weitesten
Sinne – insbes. geringe formale Bildung und
Gesundheitsversorgung –, Kultur, Religion, rechtliche und
politische Rahmenbedingungen, Grad der Urbanisierung sowie
Diskriminierung von Mädchen und Frauen gehören. Der
Einfluss dieser indirekten Faktoren auf die
Bevölkerungsentwicklung lässt sich schon im Hinblick auf
ihre komplexe Interdependenz schwerlich quantifizieren. Der Stand
der Forschung lässt sich folgendermaßen
zusammenfassen:
Die
besondere Bedeutung von Familienplanungs diensten
In den letzten
Jahrzehnten ist die durchschnittliche Kinderzahl in allen
Entwicklungsregionen gefallen, wobei diese Entwicklung in Afrika
nur sehr viel langsamer verläuft. Parallel dazu greifen immer
mehr Frauen und Männer auf moderne Verhütungsmittel
zurück. Diese beiden Entwicklungen hängen kausal
zusammen. Verschiedene umfangreiche Analysen kommen
gleichermaßen zu dem Ergebnis: das Sinken der Geburtenrate in
Entwicklungsländern ist allen verfügbaren Untersuchungen
zufolge fast ausschließlich auf erhöhte Anwendung von
Familienplanungsmethoden zurückzuführen (z.T. geht die
verringerte Fertilität auch auf erhöhte Abtreibungszahlen
zurück).
Änderung der Fertilitätspräferenzen
Eine qualitative
und quantitative Verbesserung des entsprechenden Angebots und
Zugangs zu Familienplanung reicht nicht aus, um eine Stabilisierung
der Bevölkerungszahl zu erreichen, da Familienplanungsangebote
haupt sächlich auf die Verringerung der Zahl ungewollter
Schwangerschaften und Zeitpunkt sowie Abstand zwischen den Geburten
(“spacing”) wirken. Erst bei durchschnittlich zwei
Kindern je Paar (Ersatzniveau der Fertilität 2,1) ist eine
Stabilisierung der Weltbevölkerungszahl langfristig
möglich. Die von den Eltern gewünschte Kinderzahl liegt
in zahlreichen Entwicklungsländern (noch) oberhalb dieses
Niveaus. Darum ist für eine Verwirklichung der mittleren
UN-Projektion und eine Stabilisierung der
Weltbevölkerungszahl zusätzlich eine weitere
Veränderung der Fertilitätspräferenzen
Voraussetzung, die nur begrenzt durch Familienplanungsprogramme
erreicht werden kann.
Sinkende
Fertilitätspräferenzen beeinflussen nicht nur die
Nachfrage nach Familienplanung und, soweit Familienplanung nicht
verfügbar ist, nach Abtreibung; vielmehr hat umgekehrt
erhöhte Familienplanungspraxis offenbar (Rück-) Wirkungen
auf die durchschnittlichen Fertilitäts-präferenzen
(Cleland 2002: 8f.). Das hängt auch damit zusammen, dass mehr
Familienplanung auch unmittelbar Verbesserungen der Gesundheit und
eine Reihe anderer sozioökonomischer Indikatoren
bewirkt.3
„Die
Bereitstellung flächendeckender Familienplanungsangebote
stellt eine der vielversprechendsten Investitionen in das
gegenwärtige und zukünftige Wohlergehen der Menschen
dar.“ UNICEF
Bildung
Formal weniger
gebildete Menschen haben nicht nur in Entwicklungsländern in
der Regel mehr Kinder. Dabei steht ein höherer Bildungsgrad
der Mutter stärker in Zusammenhang mit geringerer Kinderzahl
als ein höheres Bildungsniveau des Vaters (Cleland 2002: 8f.).
Darum wurde lange Zeit meist als erwiesen unterstellt, dass sich
die Verbesserung des Bildungsniveaus – insbesondere dasjenige
von Frauen – auch stark fertilitätsmindernd auswirkt
(Gelbard, Haub 1999: 25), und dies prägt bis heute die
entwicklungspolitische Debatte. Mehrere neue re empirische
Untersuchungen hingegen belegen, dass die Verbesserung der
statistisch erfassbaren Bildung keineswegs generell und
überall unabdingbare Vorbedingung für einen starken
Rückgang der Fertilität ist und dass die Wirkung
vermehrter Bildung stark kontextabhängig ist. Die engste
nachweisbare Verbindung zwischen Grad der Bildung und der
Fertilität ist die Nutzungsquote von Kontrazeptiva: höher
gebildete Frauen nutzen häufiger Verhütungsmethoden und
haben i.d.R. weniger Kinder. Dabei ist die Verbindung zwischen
Bildung und Verhütung nicht monokausal, sondern interdependent verknüpft
und von weiteren Faktoren beeinflusst. Höhere Bildung geht in
der Regel mit höherem Einkommen einher. Menschen mit
höherem Bildungsniveau wohnen überproportional oft in
Städten, wo der Zugang zu Mitteln und Maßnahmen für
Familienplanung einfacher ist. Dort haben Menschen in
Entwicklungsländern schon bei niedrigerem Bildungs- und
Einkommensniveau durchschnittlich geringere Kinderzahlen als
Menschen mit vergleichbarem Einkommens- und Bildungsniveau im
ländlichen Raum. Selbst wenn wegen der Komplexität der
Zusammenhänge die kausale Beziehung zwischen Bildung und
Kinderzahl in der Bevölkerungswissenschaft hinterfragt wird,
ist eine bessere Bildung von Mädchen und Frauen auch
bevölkerungspolitisch geboten.
Heiratsalter
Aus welchen Gründen auch immer –
je später im Leben ein Mädchen/eine junge Frau ihr erstes
Kind bekommt, umso weniger Kinder bekommt sie im Laufe ihres Lebens
insgesamt (Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 1998b: 25). Dem
entspricht, dass kulturelle Traditionen, die eine frühe Heirat
begünstigen, einer Verringerung der Geburtenrate
entgegenwirken. (Vermutlich ist der Zusammenhang jedoch
komplizierter und keine monokausale Verbindung. Lebendige
kulturelle Traditionen sind oft Ausdruck einer insgesamt geringeren
„Modernisierung” im westlichen Sinn, die sich auch in
Fertilitätspräferenzen, Situation von Frauen usw.
ausdrückt und in der Summe Einfluss auf
Fertilitätspräferenzen und Zugang zu Familienplanung
haben kann.) Die Bedeutsamkeit des Faktors frühe Heirat ist
jedenfalls gut belegbar, z.B. im arabischen Raum, wo die
durchschnittlichen Kinderzahlen von ungefähr sechs in den
letzten Jahrzehnten in einigen Ländern auf unter drei, in
anderen jedoch fast überhaupt nicht gefallen sind: der
vollkommen unterschiedliche Rückgang korreliert stark mit
Unterschieden bei der Heraufsetzung des Heiratalters im
Zusammenwirken mit anderen bevölkerungspolitischen
Maßnahmen (Gelbard, Haub 1999: 22f.). Im Übrigen ist der
Einfluss kultureller Traditionen zu komplex, als dass sich zu ihrer
Bedeutung für die Bevölkerungsentwicklung quantitative
Aussagen belegen ließen. Es ist jedoch kaum bestreitbar, dass
traditionelle Wertvorstellungen in Entwicklungsländern die
Fertilitätspräferenzen und die Möglichkeiten von
Frauen, ihr Recht auf reproduktive Selbstbestimmung auszuüben,
beeinflussen.
Wirkungen auf Familienebene
Je höher die Anzahl der Kinder in einer
Familie, umso schlechter ist auch der Gesundheitszustand der
Kinder, wobei diese negativen Folgen Mädchen infolge ihrer
Diskriminierung i.d.R. überproportional treffen
(O‘Neill, MacKellar, Lutz 2001: 101). Bei späterem
Gebäralter, größerem Abstand zwischen den Geburten
und geringerer Kinderzahl je Familie sind die Mütter-, Kinder-
und Säuglingssterblichkeit in Entwicklungsländern
geringer, und dies gilt unabhängig von der Versorgung mit
sauberem Trinkwasser, Bildungsgrad der Eltern, dem Wohnort (Stadt
oder Land) usw. (Leisinger 1999: 101). Darum besteht weitgehende
Einigkeit, dass eine Ausdehnung der Familienplanung von
herausragender Bedeutung für die Verbesserung der
Gesundheitssituation in Entwicklungsländern und für die
Situation von Frauen und Mädchen in allgemeiner Hinsicht ist
(O’Neill, MacKellar, Lutz 2001: 101, Global Health Commission
2001: 16, Leisinger 1999: 101).
In den meisten Ländern, in denen sich
hohes Bevölkerungswachstum mit anderen Erscheinungsformen von
Armut paart, ist das öffentliche Gesundheitswesen bereits
heute überfordert. In einer zunehmenden Zahl afrikanischer
Länder ist zudem in Folge der Ausbreitung von HIV/AIDS ein
Zusammenbruch des Gesundheitswesens absehbar; mittelfristig ist
auch für andere Weltregionen wie z.B. Asien eine rapide
Ausbreitung der Pandemie zumindest nicht
auszuschließen.4 Die
fürchterlichen Folgen für alle gesellschaftlichen
Bereiche sind in immer mehr der am stärksten von HIV/AIDS
betroffenen Länder bereits ersichtlich. Die Belastungen des
Gesundheitswesens durch HIV/AIDS summieren sich in immer mehr
Ländern mit den durch hohes Bevölkerungswachstum
steigenden Belastungen und mit weiteren Erschwernissen für
eine Verbesserung der Gesundheitssituation. Hinzu kommt der
steigende Anteil alter Menschen an der Weltbevölkerung; auch
diese demographische Veränderung hat global weitreichende
belastende Folgen für das Gesundheitswesen.
3 Dazu Shane 1997: 21.
4 Vgl. dazu u. a. Garrett 2000: 475; vgl. ferner UNAIDS
2001: 13f.
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