9.3.3
Wirtschaftliche und soziale Aspekte
9.3.3.1 Verschärfter
Kampf um bezahlte Beschäftigung
Schnell
wachsende Erwerbs bevölkerung
Die Weltbevölkerung befindet sich seit
einigen Jahrzehnten in einer Phase historisch einmalig hohen
Wachstums der Zahl der Menschen im Erwerbsalter (15 bis 64
Jahre).10 Dieses Wachstum
ist heute fast ausschließlich (über 90Prozent) (Farooq,
Ofosu 1992: 6) die Folge des Weltbevölkerungswachstums und der
pyramidenförmigen Altersstruktur. Die Zahl der
erwerbsfähigen Menschen wird in den nächsten zehn Jahren
um mehr als 450 Millionen Menschen (Konrad-Adenauer-Stiftung &
Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2000: 7) wachsen. Bis zur
Mitte des Jahrhunderts kommen, je nach
Bevölkerungsentwicklung, schätzungsweise zwischen 1,7 und
über zwei Milliarden Menschen hinzu (Leisinger 1999: 107); der
Unterschied entspricht der Gesamtzahl der heutigen
Erwerbsbevölkerung Lateinamerikas und der Karibik zusammen und
illus triert die Bedeutung der Beeinflussung der
Bevölkerungsentwicklung.
In Phasen, in
denen die Erwerbsbevölkerung schneller wächst als die
Gesamtbevölkerung, bietet sich die Chan ce, diesen
„demographischen Bonus” für eine Steigerung der
Wirtschaftskraft zu nutzen. Die Nutzung der theoretischen Vorteile
einer überproportional wachsenden Erwerbsbevölkerung
setzt jedoch Investitionen insbesondere in das Humankapital, andere
öffentliche Dienstleistungen und Infrastruktur voraus. In
Ländern mit rasch wachsender Bevölkerung ist dies
tendenziell schwieriger, weil sich die Investitionssumme auf eine
stetig wachsende Kopfzahl verteilt. In einer Weltwirtschaft, die
sich zunehmend auf Technik und Information stützt, besteht die
Gefahr, dass Nationen mit rasch wachsender Bevölkerung
wirtschaftlich zurückfallen.
Wachstum
des informellen Sektors
Weltweit –
mit sehr wenigen Ausnahmen – verschiebt sich die
Beschäftigung vom Agrarsektor hin zum Dienstleis-tungssektor.
In den Entwicklungsländern ist heute nach wie vor der
überwiegende Teil der Erwerbsbevölkerung in der
Landwirtschaft beschäftigt. Dieser Anteil sinkt jedoch
laufend, wozu – im Zusammenwirken mit anderen Faktoren wie z.
B. extrem ungleiche Landverteilung – die durch
Bevölkerungswachstum beschleunigte Verstädterung
beiträgt. In der Zeit zwischen 1950 und 1990 sank in
Entwicklungsländern der Anteil der in der Landwirtschaft
tätigen von über 80 auf ungefähr 60 Prozent,
während die entsprechenden Anteile des Dienstleistungssektors
von zwölf auf 23 Prozent und der Industrie von sieben auf
16Prozent der Beschäftigten stieg (Konrad-Adenauer-Stiftung
& Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2000: 12). Das
absolute Wachstum der formellen Arbeitsplätze des
industriellen und des Dienstleistungssektors in
Entwicklungsländern – ganz überwiegend in
Städten verortet – ist dabei offenbar (die Datenlage ist
für ein Großteil der Entwicklungsländer vollkommen
unzureichend) geringer gewachsen als die Zahl der Menschen im
Erwerbsalter in den Städten (ILO 1996b: 157). Dem entspricht,
dass ein immer größerer Anteil der Menschen der
Entwicklungsländer im informellen Bereich tätig ist (ILO
1996b: 157). Das überproportionale Wachstum des in den
informellen Sektor der Städte strömenden
Arbeitskräfteangebots zusammen mit anderen Faktoren wirkt
negativ auf das Lohnniveau der unteren Schichten und die soziale
Sicherung.11
Verschärfung von Einkommens ungleichheiten
Dem entspricht,
dass nach Studien z.B. der Weltbank und der ILO der Anteil der
unteren Schichten am Gesamteinkommen eines Landes umso geringer
ist, je höher das Bevölkerungswachstum ist (Leisinger
1999: 107).
Gleichwohl ist
fraglich, ob das Bevölkerungswachstum hier der
ausschlaggebende oder jedenfalls ein signifikanter
Verstärkungs-Faktor der innerstaatlichen Einkom
mensungleichheit ist. Dem weltweit zu beobachtenden Wachstum
der Einkommensungleichheit innerhalb von Ländern liegen eine
Reihe von Faktoren zugrunde: in Entwicklungsländern summieren
sich „traditionelle” Ursachen, wie z.B. extrem ungleiche Verteilung von Land mit
neueren, wie z.B. Strukturanpassungsprogrammen oder Privatisierung
maroder Staatsbetriebe. Die verfügbaren Daten (vgl. Cornia,
Court 2001) sind zu unvollständig und bieten deshalb bislang
keinen Beleg für oder gegen die These, dass das hohe
Bevölkerungswachstum ein wesentlicher Verstärkungsfaktor
der wachsenden Einkommens ungleichheiten innerhalb von
Ländern ist.
Für eine
solche Wirkung des Bevölkerungswachstums dürfte jedoch
u.a. die Erschwerung verbesserter Bildungsversorgung durch starkes
Bevölkerungswachstum sprechen. Die Verbesserung des
allgemeinen Niveaus z.B. der Bildung – insbesondere von
Mädchen – ist von besonderer Bedeutung für die
Begrenzung von Einkommensungleichheiten (Vgl. Cornia, Court 2001).
Hohes Bevölkerungswachstum ist nicht das wesentliche
Hindernis. Aber im Zusammenspiel mit der pyramidenförmigen
Altersstruktur ein zusätzliches Erschwernis für eine
Verbesserung der Bildungsversorgung (UNFPA 1991a: 7). Insofern hat
hohes Bevölkerungswachstum eine indirekte
Verstärkungswirkung auf die innerstaat liche
Einkommensungleichheit, die jedoch nicht zahlenmäßig
erfassbar ist. Entsprechendes gilt für andere Bereiche, in
denen eine verbesserte Pro-Kopf-Versorgung durch starkes
Bevölkerungswachstum erschwert wird und die für die
Entwicklung des Inlandsprodukts bedeutsam sind, z.B. im
öffentlichen Gesundheitswesen und der sonstigen
Infrastruktur.
Verstärkung der internationalen Einkommenskluft
In den
Entwicklungsländern mit hohem Bevölkerungswachstum
verteilt sich das Bruttoinlandsprodukt auf eine schnell wachsende
Menschenzahl; das hat zur Folge, dass das Pro-Kopf
Bruttoinlandsprodukt erheblich langsamer wächst als die
Wirtschaft oder sogar trotz wachsendem Bruttoinlandsprodukt sinkt.
Je geringer infolge höheren Bevölkerungswachstums das
durchschnittliche Pro-Kopf- Wachstum des Inlandsprodukts ist, umso
größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass große
Bevölkerungsteile reale Einkommenseinbußen in Zeiten
wirtschaftlichen Wachstums hinnehmen müssen. Das
Inlandsprodukt Afrikas wuchs in den neunziger Jahren jährlich
um rund 2,3Prozent und im letzten Jahrzehnt um rund 2,6 Prozent.
Infolge des Bevölkerungswachstums sank jedoch das
Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in den neunziger Jahren, und im
letzten Jahrzehnt stagnierte es nahezu, trotz
Wirtschaftswachstums.
Da am Wachstum
des Bruttoinlandsprodukts die verschiedenen
Bevölkerungsschichten unterschiedlich partizipieren,
läuft ein Wachstum des durchschnittlichen
Pro-Kopf-Inlandsprodukts nicht automatisch für die Mehrzahl
der Bevölkerung auf reale Einkommenszuwächse hinaus. Je
geringer infolge höheren Bevölkerungswachstums das
durchschnittliche Pro-Kopf-Wachstum des Inlandsprodukts ist, umso
größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass große
Bevölkerungsteile reale Einkommenseinbußen in Zeiten
wirtschaftlichen Wachstums hinnehmen müssen. Die ist besonders
deutlich am Beispiel Afrikas. Selbst wenn in Afrika die Wirtschaft
in den nächsten Jahren ungefähr mit derselben Prozentzahl
wächst wie die Bevölkerung und damit das
durchschnittliche Pro-Kopf-Inlands produkt in etwa konstant
bleibt, wird dort die Zahl der Menschen in absoluter Armut
(Einkommen unter einem Dollar pro Tag) deutlich wachsen (Weltbank
2000a: 29ff.). Mit überproportionaler Beteiligung
wohlhabenderer Schichten an Einkommenszuwächsen und konstantem
durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen ist zwangsläufig ein
Realeinkommensverlust der ärmeren Schichten und, bei Wachstum
der Bevölkerung, ein Anwachsen der Zahl der in Armut lebenden
Menschen verbunden. Da sich, wie ausgeführt,
Bevölkerungswachstum, Einkommens-ungleichheit und Armut
gegenseitig verstärken, wächst schon darum mit
höherem Bevölkerungswachstum die Ge fahr einer
Negativspirale.
Da dieser demographisch bedingte Effekt in den
Indus trie nationen nicht oder allenfalls sehr viel
geringer auftritt, bedeutet dies auf internationaler Ebene, dass
damit eine Vergrößerung der Einkommenskluft zwischen dem
ärmsten und wohlhabendsten Fünftel der Menschheit
einhergeht (Eberlei 2001a: 77).
10 Zur Definition vgl. Weltbank 2001d: 51.
11 Vgl. u. a. ILO 1996b: 151 ff.
|