*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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9.3.3       Wirtschaftliche und soziale Aspekte

9.3.3.1    Verschärfter Kampf um bezahlte Beschäftigung

Schnell wachsende Erwerbs­ bevölkerung

Die Weltbevölkerung befindet sich seit einigen Jahrzehnten in einer Phase historisch einmalig hohen Wachstums der Zahl der Menschen im Erwerbsalter (15 bis 64 Jahre).10 Dieses Wachstum ist heute fast ausschließlich (über 90Prozent) (Farooq, Ofosu 1992: 6) die Folge des Weltbevölkerungswachstums und der pyramidenförmigen Altersstruktur. Die Zahl der erwerbsfähigen Menschen wird in den nächsten zehn Jahren um mehr als 450 Millionen Menschen (Konrad-Adenauer-Stiftung & Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2000: 7) wachsen. Bis zur Mitte des Jahrhunderts kommen, je nach Bevölkerungsentwicklung, schätzungsweise zwischen 1,7 und über zwei Milliarden Menschen hinzu (Leisinger 1999: 107); der Unterschied entspricht der Gesamtzahl der heutigen Erwerbsbevölkerung Lateinamerikas und der Karibik zusammen und illus­ triert die Bedeutung der Beeinflussung der Bevölkerungsentwicklung.

In Phasen, in denen die Erwerbsbevölkerung schneller wächst als die Gesamtbevölkerung, bietet sich die Chan­ ce, diesen „demographischen Bonus” für eine Steigerung der Wirtschaftskraft zu nutzen. Die Nutzung der theoretischen Vorteile einer überproportional wachsenden Erwerbsbevölkerung setzt jedoch Investitionen insbesondere in das Humankapital, andere öffentliche Dienstleistungen und Infrastruktur voraus. In Ländern mit rasch wachsender Bevölkerung ist dies tendenziell schwieriger, weil sich die Investitionssumme auf eine stetig wachsende Kopfzahl verteilt. In einer Weltwirtschaft, die sich zunehmend auf Technik und Information stützt, besteht die Gefahr, dass Nationen mit rasch wachsender Bevölkerung wirtschaftlich zurückfallen.

Wachstum des informellen Sektors

Weltweit – mit sehr wenigen Ausnahmen – verschiebt sich die Beschäftigung vom Agrarsektor hin zum Dienstleis-tungssektor. In den Entwicklungsländern ist heute nach wie vor der überwiegende Teil der Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. Dieser Anteil sinkt jedoch laufend, wozu – im Zusammenwirken mit anderen Faktoren wie z. B. extrem ungleiche Landverteilung – die durch Bevölkerungswachstum beschleunigte Verstädterung beiträgt. In der Zeit zwischen 1950 und 1990 sank in Entwicklungsländern der Anteil der in der Landwirtschaft tätigen von über 80 auf ungefähr 60 Prozent, während die entsprechenden Anteile des Dienstleistungssektors von zwölf auf 23 Prozent und der Industrie von sieben auf 16Prozent der Beschäftigten stieg (Konrad-Adenauer-Stiftung & Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2000: 12). Das absolute Wachstum der formellen Arbeitsplätze des industriellen und des Dienstleistungssektors in Entwicklungsländern – ganz überwiegend in Städten verortet – ist dabei offenbar (die Datenlage ist für ein Großteil der Entwicklungsländer vollkommen unzureichend) geringer gewachsen als die Zahl der Menschen im Erwerbsalter in den Städten (ILO 1996b: 157). Dem entspricht, dass ein immer größerer Anteil der Menschen der Entwicklungsländer im informellen Bereich tätig ist (ILO 1996b: 157). Das überproportionale Wachstum des in den informellen Sektor der Städte strömenden Arbeitskräfteangebots zusammen mit anderen Faktoren wirkt negativ auf das Lohnniveau der unteren Schichten und die soziale Sicherung.11

Verschärfung von Einkommens­ ungleichheiten

Dem entspricht, dass nach Studien z.B. der Weltbank und der ILO der Anteil der unteren Schichten am Gesamteinkommen eines Landes umso geringer ist, je höher das Bevölkerungswachstum ist (Leisinger 1999: 107).

Gleichwohl ist fraglich, ob das Bevölkerungswachstum hier der ausschlaggebende oder jedenfalls ein signifikanter Verstärkungs-Faktor der innerstaatlichen Einkom­ mens­ungleichheit ist. Dem weltweit zu beobachtenden Wachstum der Einkommensungleichheit innerhalb von Ländern liegen eine Reihe von Faktoren zugrunde: in Entwicklungsländern summieren sich „traditionelle” Ursachen,    wie z.B. extrem ungleiche Verteilung von Land mit neueren, wie z.B. Strukturanpassungsprogrammen oder Privatisierung maroder Staatsbetriebe. Die verfügbaren Daten (vgl. Cornia, Court 2001) sind zu unvollständig und bieten deshalb bislang keinen Beleg für oder gegen die These, dass das hohe Bevölkerungswachstum ein wesentlicher Verstärkungsfaktor der wachsenden Einkommens­ ungleichheiten innerhalb von Ländern ist.

Für eine solche Wirkung des Bevölkerungswachstums dürfte jedoch u.a. die Erschwerung verbesserter Bildungsversorgung durch starkes Bevölkerungswachstum sprechen. Die Verbesserung des allgemeinen Niveaus z.B. der Bildung – insbesondere von Mädchen – ist von besonderer Bedeutung für die Begrenzung von Einkommensungleichheiten (Vgl. Cornia, Court 2001). Hohes Bevölkerungswachstum ist nicht das wesentliche Hindernis. Aber im Zusammenspiel mit der pyramidenförmigen Altersstruktur ein zusätzliches Erschwernis für eine Verbesserung der Bildungsversorgung (UNFPA 1991a: 7). Insofern hat hohes Bevölkerungswachstum eine indirekte Verstärkungswirkung auf die innerstaat­ liche Einkommensungleichheit, die jedoch nicht zahlenmäßig erfassbar ist. Entsprechendes gilt für andere Bereiche, in denen eine verbesserte Pro-Kopf-Versorgung durch starkes Bevölkerungswachstum erschwert wird und die für die Entwicklung des Inlandsprodukts bedeutsam sind, z.B. im öffentlichen Gesundheitswesen und der sonstigen Infrastruktur.

Verstärkung der internationalen Einkommenskluft

In den Entwicklungsländern mit hohem Bevölkerungswachstum verteilt sich das Bruttoinlandsprodukt auf eine schnell wachsende Menschenzahl; das hat zur Folge, dass das Pro-Kopf Bruttoinlandsprodukt erheblich langsamer wächst als die Wirtschaft oder sogar trotz wachsendem Bruttoinlandsprodukt sinkt. Je geringer infolge höheren Bevölkerungswachstums das durchschnittliche Pro-Kopf- Wachstum des Inlandsprodukts ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass große Bevölkerungsteile reale Einkommenseinbußen in Zeiten wirtschaftlichen Wachstums hinnehmen müssen. Das Inlandsprodukt Afrikas wuchs in den neunziger Jahren jährlich um rund 2,3Prozent und im letzten Jahrzehnt um rund 2,6 Prozent. Infolge des Bevölkerungswachstums sank jedoch das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in den neunziger Jahren, und im letzten Jahrzehnt stagnierte es nahezu, trotz Wirtschaftswachstums.

Da am Wachstum des Bruttoinlandsprodukts die verschiedenen Bevölkerungsschichten unterschiedlich partizipieren, läuft ein Wachstum des durchschnittlichen Pro-Kopf-Inlandsprodukts nicht automatisch für die Mehrzahl der Bevölkerung auf reale Einkommenszuwächse hinaus. Je geringer infolge höheren Bevölkerungswachstums das durchschnittliche Pro-Kopf-Wachstum des Inlandsprodukts ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass große Bevölkerungsteile reale Einkommenseinbußen in Zeiten wirtschaftlichen Wachstums hinnehmen müssen. Die ist besonders deutlich am Beispiel Afrikas. Selbst wenn in Afrika die Wirtschaft in den nächsten Jahren ungefähr mit derselben Prozentzahl wächst wie die Bevölkerung und damit das durchschnittliche Pro-Kopf-Inlands­ produkt in etwa konstant bleibt, wird dort die Zahl der Menschen in absoluter Armut (Einkommen unter einem Dollar pro Tag) deutlich wachsen (Weltbank 2000a: 29ff.). Mit überproportionaler Beteiligung wohlhabenderer Schichten an Einkommenszuwächsen und konstantem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen ist zwangsläufig ein Realeinkommensverlust der ärmeren Schichten und, bei Wachstum der Bevölkerung, ein Anwachsen der Zahl der in Armut lebenden Menschen verbunden. Da sich, wie ausgeführt, Bevölkerungswachstum, Einkommens-ungleichheit und Armut gegenseitig verstärken, wächst schon darum mit höherem Bevölkerungswachstum die Ge­ fahr einer Negativspirale.

   Da dieser demographisch bedingte Effekt in den Indus­ trie­ nationen nicht oder allenfalls sehr viel geringer auftritt, bedeutet dies auf internationaler Ebene, dass damit eine Vergrößerung der Einkommenskluft zwischen dem ärmsten und wohlhabendsten Fünftel der Menschheit einhergeht (Eberlei 2001a: 77).



10 Zur Definition vgl. Weltbank 2001d: 51.

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11 Vgl. u. a. ILO 1996b: 151 ff.

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Abbildung 9-4