9.4.1.1 Kairo 1994:
Paradigmenwechsel und internationaler Konsens
Mit der Kairoer UN-Konferenz zu
Bevölkerung und Entwicklung 1994 wurde ein Paradigmenwechsel
eingeläutet: zum einen wurde nach jahrzehntelangem Streit ein
weitreichender internationaler Konsens15 zu Weltbevölkerungsentwicklung und
diesbezüglicher Politik im Kontext nachhaltiger Entwicklung
erreicht. Vor allem aber lös te eine von individuellen
Bedürfnissen aus gehende Sichtweise und
diesbezügliche Handlungs empfehlungen die zuvor
dominierende Auffassung ab, welche Bevölkerungspolitik
hauptsächlich als ein Instrument zur kontrollierenden
Steuerung „von oben” zum Inhalt hatte. Die alte
Sichtweise von Bevölkerungspolitik war einer der wesentlichen
Gründe für eine Ablehnung durch Frauen- und
Menschenrechtsgruppen gewesen; dieser Grund entfiel mit den Kairoer
Beschlüssen weitgehend. Und der Streit, ob „Entwicklung
die beste Pille” oder Verhütung notwendige Vorbedingung
von Entwicklung sei, wurde in dem Sinne aufgelöst, dass
Verbesserung des Zugangs zu Familienplanung weder vor- noch
nachrangig, sondern ein notwendiger Bestandteil von anderen
Entwicklungsanstrengungen und in diesen zu integrieren sei.
Der Konsens von Kairo ist nachfolgend auf
weiteren UN-Konferenzen der neunziger Jahre, insbesondere auf der
Weltfrauenkonferenz
1995 (Beijing), in verschiedener Hinsicht bestätigt worden und
wurde auf der Kairo-Folgekonferenz 1999 trotz entsprechender
Versuche des Vatikan von der internationalen Gemeinschaft nicht
mehr infrage gestellt.
15 Zwar waren Vorbereitung und Durchführung auch
der Kairoer Konferenz von heftigem Streit geprägt. Dies ging
jedoch zum Großteil auf ein den Verlauf stark behinderndes
Widerstreben des Vatikan und einiger kleinerer Länder aus; die
Vorbehalte des „Heiligen Stuhls“ richteten sich vor
allem gegen den Einsatz von Kondomen zur Eindämmung der
HIV/AIDS-Pandemie sowie von „künstlichen“
Verhütungsmitteln insgesamt, gegen Sexualaufklärung und
von Verhütungsmöglichkeiten für Jugendliche und
unverheiratete Menschen sowie gegen eine Anerkenntnis des
Menschenrechts auf Familienplanung als Individualrecht. Andere
Streitpunkte z. B. zur Bewertung von Migration, zur Gleichstellung
der Frau usw. konnten mit den übrigen Konferenzteilnehmern
weitestgehend beigelegt werden. Im Übrigen hat aber die
internationale Gemeinschaft mit dem Kairoer Abschlussdokument eine
Konsensleistung zustande gebracht, die ihresgleichen sucht; und
zwar nicht nur zwischen nahezu allen Regierungen weltweit, sondern
auch zwischen verschiedenen Gruppierungen der
Nichtregierungsorganisationen auf den Feldern der
Bevölkerungs-, Frauen-, Umwelt- und sonstigen
Entwicklungspolitik, den Akademien der Wissenschaften auf der
ganzen Welt und zahlreichen weltweiten Verbänden. Gegen den
Kairoer Konsens wurden auch vom Vatikan nur teilweise (siehe oben)
sowie, was die Gleichberechtigung von Frauen angeht, von einigen
islamisch geprägten Ländern Vorbehalte geltend
gemacht.
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