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Mitten im Leben steht ein hellblaues Kindergartenschiff
Wenn ich abgeholt werde, bin ich weg", sagt Robert. In dem Satz liegt eine kleine Traurigkeit, und – es lässt sich nicht leugnen – eine Einsicht von philosophischer Dimension. Deshalb steht der Satz an einer Pinnwand. Damit ihn alle lesen. Robert ist ein noch ziemlich junger Philosoph und geht in den Kindergarten des Deutschen Bundestages.
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Abgeholt werden von hier möchten die meisten der fünfzig Kinder im Alter von 18 Monaten bis zwölf Jahren nicht so früh. Es gibt einfach eine Menge zu tun in solch einem Kindergarten. Wer da nicht hinterher ist, kriegt nur die Hälfte auf die Reihe. Dann steht nachmittags Mutter oder Vater vor der Tür, obwohl man es noch nicht einmal geschafft hat, auf der Schaukel draußen so hoch zu fliegen, dass man glatt über das Paul-Löbe-Haus auf den Reichstag spucken könnte, oder dieses wirklich wichtige Bild zu malen, das nur aus Orange besteht. Aber was für einem Orange!
Außerdem ist es, wenn man klein ist, schwierig wirklich einzuschätzen, wie viel Zeit vergangen ist oder vergehen wird. Ein paar Tage ohne Kindergarten können ganz schön lang sein: "Du, Astrid, dieses Jahr komme ich nicht mehr", kündigte ein Mädchen der Leiterin der Kindertagesstätte am Telefon an und blieb auch ein paar Tage aus. Diese paar Tage ohne den ganzen schönen Rummel kamen der Kleinen offensichtlich wie eine Ewigkeit vor.
Astrid Bahr ist die Leiterin des langgestreckten hellblauen Kindergarten-Schiffes an der Spree, auf dem sich zwei begehbare Kuppeln etwas vorwitzig in den Himmel wölben, als wollten sie nachts Teleskope ausfahren, um Peterchens Mondfahrt zu beobachten.
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Astrid Bahr ist ruhig und aufmerksam, bestimmt und zugewandt, trägt schöne lange Kleider, in deren Falten sich ein kleiner Knirps oder eine Knirpsin notfalls schnell mal verstecken könnte und – sie hat den Überblick. Dabei hilft ihr, dass sie an einem strategisch äußerst wichtigen Punkt sitzt: Wer in die Kita reinkommt, sieht sie hinter großen Fenstern an ihrem Schreibtisch, von dem aus sie wiederum auf einen der Spielplätze, den mit den Schaukeln, schauen kann.
Noch wichtiger aber ist: Die Tür zum Arbeitszimmer Astrid Bahrs geht von der großen Eingangshalle ab, die zugleich der zentrale Treffpunkt aller Kinder ist, Ort für gemeinsame Spiele, Tobereien, Weihnachts- singereien, Osterbasteleien, Geschichtenerzählereien. Hier finden sich alle zusammen, die sonst ihre Räume und Nischen haben, ihre Rückzugsorte und Ruhepunkte, ihre Kuschelecken und Schlafplätze. Die Anderthalb- bis Dreijährigen können gucken, was die Großen so treiben. Die Drei- bis Sechsjährigen weihen die Kleinen ins Leben der Vorschulkinder ein, und die Schulkinder berichten vom Arbeitsleben draußen, in der Schule, wo man hingeht, wenn man schon richtig groß ist.
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Astrid Bahr leitet die Kindertagesstätte des Deutschen Bundestages und hat trotzdem nicht vergessen, wie man spielt. |
In ganz seltenen Fällen ist die Tür zum Zimmer der Leiterin des Hauses geschlossen. Dann braucht sie wirklich mal ein wenig Zeit ganz allein in ihrem Büro. Meistens aber kann man reingehen, sich umschauen, versuchen, sie mit ganz wichtigen Gesprächen von ihrer auch ganz wichtigen Arbeit am Schreibtisch abzulenken.
Mal sehen, wer gewinnt: die Kinder mit ihrem immensen Gesprächsbedarf, den Wünschen, mal ein wenig in den Regalen zu stöbern oder gar am Computer von Frau Bahr zu spielen, oder die Macht der Notwendigkeit, der Wust von Büroarbeit, den so eine Chefin geradezu en passant erledigen muss.
Die Arbeit ist gegenwärtig durch eine Tatsache besonders umfangreich: Erst im August des vergangenen Jahres zog man aus der Bonner Kindertagesstätte des Bundestages nach Berlin. Mit Sack und Pack, aber nicht allen Säcken und Päckchen, mit Kind und Kegel, aber nicht allen Kindern und Kegeln.
Die Kindertagesstätte in Bonn gibt es noch. Es steht an, sie in eine neue Trägerschaft zu überführen. Astrid Bahr ist für beide Häuser zuständig und somit für alle Probleme, seien sie rein technischer Natur oder, was viel schwerer wiegt, ganz menschlicher Art.
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Schaukeln, so hoch, dass man auf den Reichstag spucken könnte ... |
Sie ist eine Pendlerin zwischen den Welten, zwischen Rhein und Spree: dort Neuanfang nach einem vermeintlichen Ende, hier Neuanfang inmitten einer noch immer großen Baustelle. Und das meint so viel Neues. Diese Stadt Berlin ist so ganz anders als Bonn. "Unsere Schulkinder mussten monatelang üben, den Weg von der Schule hierher zu bewältigen. Das sind ja ganz andere Dimensionen. Wir haben sie abgeholt und nach und nach den Treffpunkt immer näher zur Kita verlagert", erzählt sie. Es wird noch eine Weile dauern, bis sie die Wege sicher beherrschen. "In Bonn", sagt Astrid Bahr mit einer ganz ganz kleinen Wehmut, "waren die Wege kürzer."
Acht Frauen und zwei Männer arbeiten in dem hellblauen Kindergartenschiff. In der Eingangshalle hängen Fotos von ihnen. Man kann lesen, wie alt sie sind, wo sie herkommen und was ihnen an der Arbeit gefällt. Und bei einem Rundgang durch die Kindertagesstätte kann man sehen, wie sie mit den Kindern umgehen und arbeiten.
Jedes Kind ist ein Künstler. Ganz offensichtlich werden der Drang und das Können, mit Farben richtig zu spielen, großflächig zu malen, Krikelkrakel zu pinseln und zu sagen, dies sei ein Dinosaurier, der ein Überraschungsei esse, gefördert und gefordert. Murmeltechnik, Abklatschtechnik, Collage, Fingermalereien – hier zieht niemand einen Rand und keiner spart mit Farbe.
In den Räumen der Kinder setzt sich das kreative Chaos fort. Die Kuschelecken sind genau so, wie Kuschelecken sein müssen: ein bisschen unordentlich, damit man sich hinter Kissen und unter Decken verstecken kann. Und wer gerade ein Wettkonzert vorbereitet und Lampenfieber hat, braucht Raum, um Klamotten zum Verkleiden auszubreiten, und Platz, um der Aufregung beizukommen.
Astrid Bahr kennt die Spiele der Kinder. Sie spielt mit. Immer dann, wenn sie Zeit hat. Und wenn sie keine Zeit hat, nimmt sie sich welche und den Bürokram am Abend mit nach Hause.
Vieles an der Einrichtung des Hauses ist der Tatsache zu verdanken, dass sie von Anfang an dabei war. Sie hat den Bau vom Fundament bis zu den Kuppeln begleitet. Deshalb haben die Waschbecken jetzt überall die richtige Höhe, und niemand muss auf einen Stuhl klettern, um sich im Spiegel zu sehen. Deshalb gibt es Fenster zur Spree hin, wo erst keine geplant waren.
Ihre Erfahrungen rekrutieren sich aus fast 25-jähriger Arbeit mit Kindern. Angefangen hat sie als Erzieherin in einem Hort. "Mein Großvater, der früher, als ich ein kleines Kind war, zu allen Aufführungen kam, die wir im Kindergarten veranstalteten, hat immer gesagt, ich müsse Schauspielerin werden. Ich aber, ich wollte eigentlich immer schon Erzieherin sein. Ich bin mit zwei Geschwistern groß geworden und habe mir als junges Mädchen mein Taschengeld mit Babysitten aufgebessert. Die Auseinandersetzung mit Kindern, der Kontakt mit ihnen, ist das Schönste, was es gibt", sagt Astrid Bahr.
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Zwei silberne Kugeln wölben sich etwas vorwitzig in den Himmel über der Kindertagesstätte. |
Ihr Tag in Berlin, das noch eine unbekannte Stadt für sie ist, beginnt zeitig. "Ich bin ein Morgenmuffel", gibt sie zu und schickt nach, dass ihr die Fahrt mit der S-Bahn und der Gang zum Kindergarten genügen, um aufmerksam und gut gelaunt bei der Arbeit anzukommen. Dann erst einmal in jeder Gruppe guten Morgen sagen und später frühstücken. Meist in der altersgemischten Gruppe, so zwischen 9 Uhr und 9.30 Uhr. Da kann man zuhören und erzählen. Dann die Chance, im Büro einige Dinge zu erledigen: Rahmenpläne, Absprachen mit Handwerkern, mit dem Reinigungspersonal, Telefonate, Gespräche mit Eltern, Aufnahmeverfahren, Schulprobleme klären, Dienstbesprechungen, Essenpläne fertig machen, mit der Personalabteilung reden. "Aber irgendwann ist es an der Zeit, mit den Kindern zu spielen, Hausaufgaben zu machen, beim Wickeln zu helfen. So merke ich zum Beispiel, dass manchmal die alten Spiele wiederkehren. Die meiner Kinderzeit. ,Der Plumpsack geht rum' oder ,Himmel und Hölle', die ganz einfachen Bewegungsspiele, wie ,Butter, Käse, Milch'."
Butter, Käse, Milch heißt in Berlin wahrscheinlich "Strohpuppe dreh dich um" oder "Wenn der Kaiser aus China kommt", aber es ist egal – man muss die Spiele kennen. Und Astrid Bahr kennt sie, die Spiele, die Kinder, die kleinen und großen Probleme der Kinder, ihre Vorlieben und Abneigungen. Sie ist in diesen acht Monaten angekommen in dem hellblauen Kindergartenschiff an der Spree, das so mitten in der Mitte von Berlin liegt und doch den Eindruck macht, es könne auch mal schnell ablegen und in Richtung Taka-Tuka-Land segeln.
Noch fehlen ein paar Dinge zum ganzen Glück. Ein Ort, wo sie Volleyball spielen kann zum Beispiel. Ein Lieblingskino vielleicht, ein bisschen rheinische Freundlichkeit manchmal. Wenn die Pendelei vorbei ist, wird sie mehr Zeit haben, die Stadt auch für sich in Anspruch zu nehmen. Dann wird sie vielleicht feststellen, dass die Kinder im Sommer wieder Gummihopse vor den Häusern und in den Parks spielen. Sie wird feststellen, dass die ganz Kleinen in ihrem Kindergarten anfangen, "icke" und "dette" zu sagen. Sie wird von ihrem Büro aus die Kinder kommen und gehen sehen und Zeit haben zu beobachten, wie sich die zehnjährigen Mädchen auf den Schaukeln in die Luft schwingen und dabei Geheimnisse verraten, die niemand sonst wissen soll.
Und Robert wird feststellen, dass das Wegsein nicht ewig dauert. Vielleicht sagt er dann: "Wenn Papa mich bringt, bin ich da." Irgendein Eckermann wird es aufschreiben und an die Pinnwand hängen. Damit alle lesen können, welch ein toller Philosoph Robert ist.
Kathrin Gerlof