Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 25.04.2005
Zur Druckversion .
Jeannette Goddar

Wettlauf in den Abgrund

Weltweit werden mehr Menschen in Städten leben als auf dem Land

Es ist wohl eine der meist gestellten Fragen der Welt: Wie lange brauche ich, um von A nach B zu kommen? In Manila erntet man dafür nur einen verständnislosen Blick. Zum wiederholten Mal wischt sich Luis, der Taxifahrer, den Schweiß von der Stirn. Und guckt einen etwa so an, als hätte man gefragt, wie lange er zu leben gedächte. "Kann halbe Stunde sein", sagt er, achselzuckend, "kann zwei Stunden sein. Sie sehen doch."

Was man sieht, sind Gefährte überall. Privatautos und Taxis, Mofas mit zwei und mit drei Rädern, LKW?s und Busse. Stoßstange an Stoßstange quält sich der Verkehr auf acht Spuren durch die philippinische Hauptstadt. Die "Epifanio de los Santos", einfach nur "Edsa" genannt, ist die stets vollgepumpte Hauptschlagader Manilas. Wer von Nord nach Süd will, ist nicht selten vier Stunden auf ihr unterwegs. Und obwohl die EDSA eine Autobahn ist, sieht man auch tausende Fußgänger: Hunderte laufen in jeder Minute die Ausfahrten rauf und runter. Bis ein Linienbus sie oben abgesetzt und sich wieder zurückgestaut hätte, würde es eine Ewigkeit dauern.

All das ist Normalfall in einer Stadt, in der die durchschnittliche Verkehrsgeschwindigkeit bei zehn Kilometern pro Stunde liegt und etwa der eines Eselskarren entspricht. Fünf Millionen pendeln hier allein täglich zur Arbeit; nicht mehr als 500.000 nutzen die einzige Bahnverbindung. Die Genauigkeit dieser Angaben ist allerdings offen - schließlich weiß nicht einmal jemand, wie viele Menschen überhaupt in Manila leben. Zwölf Millionen, sagen die Vereinten Nationen. 15 Millionen, heißt es in Manila, vielleicht 18. Dabei hat alles ganz harmlos angefangen, mit 150 Holzhütten, die die Spanier im 16. Jahrhundert in die Nähe einer Meereinbuchtung bauten. Auch 1900 lebten erst 200.000 Philippinos in der Stadt. Weniger als 100 Jahre später waren es zehn Millionen. Heute drängen sich 15.000 Menschen auf einem Quadratkilometer.

Das rasende Wachstum ist ein Schicksal, das die meisten Mega-Cities teilen. In der Definition der Vereinten Nationen leben in einer Mega-Stadt mehr als zehn Millionen Menschen. Im Jahre 1950 gab es eine - New York. Heute sind es 16. Im Jahre 2015 werden es 23 sein. Manila wird bis dahin von Platz 16 auf Platz 12 rücken. Es gibt Städte, die noch viel schneller wachsen: Das bengalische Dhaka, das erst vor 50 Jahren die Halb-Millionen-Grenze überschritt, wird nach Berechnungen der UN in zehn Jahren 22 Millionen beherbergen und die zweitgrößte Stadt der Welt nach Tokio sein. Dagegen verlief die Entwicklung einer Stadt wie London geradezu beschaulich: Von 1800 bis heute hat sich deren Einwohnerzahl verachtfacht - eine Entwicklung, von der Stadtplaner in Bombay, Dhaka, Manila oder Shanghai nur träumen können. Nirgends schreitet die Urbanisierung so schnell voran wie in Asien. Über die Hälfte der Mega-Cities von morgen wird in Asien liegen. Insgesamt ist in zehn Jahren jeder zweite Weltbürger Asiate - vor 100 Jahren war es nicht einmal jeder zehnte.

Der Run auf die urbanen Regionen ist nicht zu stoppen. Was die Menschen in die Städte zieht, hat sich dabei seit dem deutschen Mittelalter, als der Slogan "Stadtluft macht frei" die Menschen aus der Fron trieb, erstaunlich wenig verändert: Städte stehen für Bildung und Freiheit, Reichtum und Glück, Aufbruch und Hoffnung. Für ein besseres Leben, für sich selbst, oder doch zumindest für die Kinder.

Ein Mythos? Nein. Städte, ob mega oder nicht, sind selbst im schlimmsten Fall nie nur finsterer Moloch, sondern immer auch strahlende Metropole. Das Pro Kopf-Einkommen in Manila ist sieben Mal höher als in Mindanao, der ärmsten Region des Landes. Jeder dritte Peso wird in der Hauptstadt erwirtschaftet. In der Hauptstadt sind die Banken, die großen Firmen, die Universitäten, Kultur und Medien. Allerorten ist die Verstädterung nicht nur Drama, sondern auch Motor der Entwicklung.

Einerseits. Andererseits frisst das Tempo, in dem die Menschen in ihr Zuflucht suchen, Städte nahezu auf. Wie Kraken breiten sich Dhaka, Lagos oder Manila aus. Täglich ziehen hier Hunderte, manchmal Tausende, zu. Weltweit sollen es 200.000 sein, die täglich in die Stadt ziehen - eine Entwicklung, die dafür sorgen wird, dass an irgendeinem Tag dieses Jahres zum ersten Mal mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land leben werden.

Stadtplanung wird aber häufig nicht nur durch Masse erschwert, sondern auch dadurch, dass viele Mega-Cities im Verwaltungssinn gar nicht eine, sondern viele Städte sind. Auch die City of Manila hat nur eine Million Einwohner - und ist erst durch das Zusammenwachsen mit zwölf weiteren Städten zur Megastadt "Metro Manila" geworden. Die mangelnde Mobilität ist nach Ansicht vieler gar nicht das größte Problem. Aber sie ist ein immenses und unübersehbares Defizit, nicht zuletzt, weil Verkehrchaos, anders als Armut oder Krankheit, demokratisch ist und auch die Reichen, die Unternehmer, die Investoren und damit die wirtschaftliche Entwicklung trifft. Wer investiert in eine Stadt, in der man sich kaum bewegen kann? Wer entsendet Mitarbeiter an einen Ort, an dem der Flughafen nur nach Stunden erreichbar ist?

Dennoch: Für das Leben und Überleben der Mega-City-Bewohner wäre eine Verbesserung der Lage in den Armenvierteln vordringlich. Fast eine Milliarde Menschen leben weltweit in Slums - das ist jeder dritte Stadtbewohner. Das UN-Siedlungsprogramm Habitat schätzt, dass bis 2030 eine weitere Milliarde hinzukommt. Im jüngsten Habitat-Report zur Lage der Städte wird das als "Wettlauf in den Abgrund" beschrieben. Die Früchte der Globalisierung, so die UN, kommen nicht den Vierteln der Armen an.

In Manila hat jeder Dritte keinen Zugang zu Trinkwasser. Mehr als drei Millionen werden als Slumbewohner gezählt. Sie drängen sich in Hütten aus Brettern, Pappe oder Aluminium am Stadtrand. Sie bauen ihre Verschläge an Bahndämmen, am Flussufer oder am Hafen. 150.000 sollen sich allein in hängenden und extrem unsicheren Behausungen unter den Brücken der Stadt eingerichtet haben. Noch mehr leben auf den Müllbergen am Stadtrand. Auf einem dieser "Smokey Mountains" ereignete sich im Sommer 2000 ein Alptraum, der einen der wenigen Momente der Öffentlichkeit für das Drama des Slums brachte: Tagelanger Regen brachte die steilen Hänge eines bewohnten Müllbergs ins Rutschen und begrub 400 bis 800 Menschen in einer Lawine aus Dreck und Abfall.

Der Kampf gegen die Verslumung soll in den kommenden Jahren im Zentrum der Städtepolitik stehen: UN-Generalsekretär Kofi Annan hat das 21. zum Jahrtausend der Städte erklärt. Seit der Gründung von "Habitat" verfügt die UN über ein ständiges Forum zur Zukunft der Städte. "Metropolis" ist ein Zusammenschluss von 80 Städten, von denen die meisten keine Mega-Cities sind. Doch auch hier lautet der Titel der Auftaktveranstaltung des Metropolis2005-Kongresses in Berlin: "Megacities und ihre Armen: Krise oder Chance? Die Rolle der Städte für die Millenium-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen." Letztere sind nicht ohne Ehrgeiz und noch in weiter Ferne: Bis 2015 will die Weltgemeinschaft die Armut und den Anteil der Hungernden auf der Welt halbieren sowie Bildung für alle schaffen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.