Die Geschichte parlamentarischer Untersuchungsausschüsse ist lang. In England existierten sie bereits im 14. Jahrhundert. In Deutschland etablierte sich ein wirkungsvolles Untersuchungsrecht des Parlaments nach erfolglosen Versuchen von 1848/49 erst mit der Weimarer Reichsverfassung 1919. Seit 1949 ist es fester Bestandteil der politischen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik. Die Arbeit der Untersuchungsausschüsse wird regelmäßig von der Frage begleitet, was sie mehr sind: politisches Kampfmittel oder Instrument der Aufklärung? In der aktuellen Debatte um Live-Übertragungen der Sitzungen erlebte diese Frage eine neue Renaissance.
In der Debatte um die für die Opposition zentrale Frage, wann Bundesaußenminister Joschka Fischer als Zeuge geladen werde, sagte der Grünen-Obmann im Visa-Untersuchungsausschuss Jerzy Montag vor Wochen gereizt: "Wir werden nicht zulassen, dass der Ausschuss zum Kasperle-Theater wird." Als Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) im Juni 2002 vor den Parteispenden-Ausschuss zitiert wurde, nannte er seine Vorladung eine "politische Inszenierung". Damals nutzte der Bundestag sein Untersuchungsrecht, um ein illegales Spendensystem der CDU aufzudecken. Auch als "Schmierentheater" wird das Gremium von den Beteiligten abwechselnd, je nach Rollenverteilung, gern bezeichnet.
Der Vorwurf, Untersuchungsausschüsse dienen mehr der parteipolitischen Polemik als der Sachaufklärung, begleitet deren Arbeit immer wieder. Im Artikel 44 des Grundgesetzes heißt es jedoch ganz nüchtern: "Der Bundestag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, der in öffentlicher Verhandlung die erforderlichen Beweise erhebt." Es geht um das grundlegende Recht des Parlaments auf Selbstinformation über politische Vorgänge in Staat und Gesellschaft, und Untersuchungsausschüsse sind das Mittel zum Zweck. Um diesen zu erfüllen wurden sie vom Gesetzgeber mit umfangreichen Befugnissen ausgestattet. Insbesondere das Recht Beweise zu erheben, also auch Zeugen vorzuladen und zu vereidigen, gehört dazu. Das parlamentarische Untersuchungsrecht befreit den Bundestag (auf Landesebene den Landtag) davon, in seiner Arbeit auf Fremdinformationen angewiesen zu sein, zum Beispiel durch die Regierung. Nur dadurch ist er in der Lage, eine unabhängige Kontrollfunktion gegenüber der Regierung einzunehmen - vor allem die Opposition hat daran naturgemäß ein Interesse. Es handelt sich also eigentlich nur um Auswertung von Aktenmaterial, und das ist eher mühselige Kleinarbeit.
Indem dies aber öffentlich geschieht, bietet sich den Parteien die Chance, die Fakten zu instrumentalisieren und dem politischen Gegner zu schaden. Nicht umsonst werden Untersuchungsausschüsse als "schärfstes Schwert" der Opposition bezeichnet. Sie dienen der "Bestimmung der politischen Tagesordnung" sagt der Politikwissenschaftler Jürgen Plöhn. "Aus Sicht der Bundestagsfraktionen ist eine Untersuchung nur dann interessant, positiv wie negativ, wenn sie in den Medien ein großes Echo erfährt", so Plöhn.
Gestaltend auf die politische Tagesordnung einzuwirken, davon konnte der Reichstag im kaiserlichen Deutschland nur träumen. Max Weber, auch als Vater des deutschen Untersuchungsrechts bezeichnet, kritisierte an der Struktur des Reichstages vor allem eines: Sie sei zugeschnitten auf eine "lediglich negative Politik: Kritik, Beschwerde, Beratung, Abänderung und Erledigung von Vorlagen der Regierung", schrieb der Begründer der deutschen Soziologie 1917 in der "Frankfurter Zeitung". Von positiver Teilhabe an der politischen Leitung aber sei das Parlament ausgeschlossen. Dadurch sei es gezwungen, diese "negative Politik" zu betreiben, "das heißt: den Verwaltungsleitern wie eine feindliche Macht gegenüber stehen, von ihnen als solche mit dem unentbehrlichen Minimum von Auskunft abgespeist und nur als Hemmschuh, als eine Versammlung impotenter Nörgler und Besserwisser gewertet", so die Analyse Webers. Da dem Reichstag das Recht fehle, selber gestaltend tätig zu werden oder gar eine kontrollierende Funktion gegenüber der Verwaltung einzunehmen ist er "verfassungsmäßig zur dilletantischen Dummheit verurteilt".
In dieser Rolle konnten die Parlamente der Monarchie tatsächlich nicht gefährlich werden. Zwar verankerte man schon 1848/49 das parlamentarische Untersuchungsrecht in der Paulskirchenverfassung und den Verfassungen der Einzelstaaten. Die preußische Verfassung von 1850 definierte dieses Recht lediglich als allgemeines Recht zur Informationsbeschaffung. Besondere Befugnisse für das Parlament formulierte sie nicht. Es blieb letztlich wirkungslos und tauchte in der Reichsverfassung von 1871 gar nicht mehr auf.
Als wichtigstes Machtmittel dieser kaiserlichen Bürokratie gegenüber dem Parlament bezeichnete Weber die Verwandlung von Dienstwissen in Geheimwissen, das nicht nur dem Reichstag sondern auch der Öffentlichkeit vorenthalten werden kann. Um diese Übermacht der Bürokratie zu brechen, forderte er Untersuchungsausschüsse, die, je nach Anlass, Tatsachen untersuchen sollten und denen gegenüber Regierung und Verwaltung zur Auskunft verpflichtet sein müssen. In der Zulassung von Öffentlichkeit sah Weber kein Hinderniss sondern vielmehr ein zentrales Element der Aufklärung: "Die durch effektive Parlamentskontrolle erzwungene Publizität der Verwaltung ist das, was als Vorbedingung jeder fruchtbaren Parlamentsarbeit und politischen Erziehung der Nation zu fordern ist."
Seit 1949 setzte der Bundestag 47 Untersuchungsausschüsse ein. Im wohl bedeutendsten seiner Art, dem Flick-Untersuchungsausschuss (1983 bis 1986), erreichte die öffentliche Anteilnahme bisher unbekannte Dimensionen. In einem riesigen öffentlichen Spektakel gegenseitiger Schuldzuweisungen versuchten Politiker aller Parteien den möglichst größten Nutzen aus dem Skandal zu ziehen. Es war offenkundig, dass das Gremium von allen Seiten als politisches Kampfinstrument benutzt wurde. Hat es der Aufklärung geschadet?
Die Hauptrolle in dem Stück über käufliche Politiker spielten großen Teile der politischen Elite der Bundesrepublik. Im Zentrum standen zunächst nur Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) und sein Vorgänger Hans Friderichs (FDP). Beide hatten Mitte der 70er-Jahre großzügige Spendengelder des Flick-Konzerns erhalten, in auffälliger zeitlicher Nähe zu einer vom Bundeswirtschaftsministerium erteilten Steuerbefreiung für den Konzern. Bald schon entwickelte sich der Flick-Skandal zu einem Parteispendenskandal. Es stellte sich heraus, dass alle im Bundestag vertretenen Parteien entgegen gesetzlichen Vorschriften in großem Umfang Spenden von der Industrie erhalten hatten.
Gegner als korrupt darstellen
Die über die Medien ausgetragene politische Auseinandersetzung mutete dabei wie ein Wettlauf um die größten Vorwürfe an: Die SPD warf der FDP vor, sich vom Flick Konzern nicht nur einzelne Entscheidungen sondern gar den Wechsel in ein anderes Regierungslager (sie war 1982 aus der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt ausgestiegen und hatte so die Koalition von Union und FDP möglich gemacht) erkauft zu haben. Die Grünen sprachen vom "Kanzler der Großindustrie", und die Union beschuldigte ihrerseits die SPD, sich von den Gewerkschaften und Flick finanzieren zu lassen. Auch in ihren Abschlussberichten dementierten FDP, CDU und SPD jegliche eigene Schuld und wiesen sie dem anderen politischen Lager zu. Im Vordergrund standen politische Bewertungen, in denen es darum ging, den politischen Gegner als möglichst korrupt darzustellen.
Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, die Affäre nur als Parteiengezänk abzutun: Sie hinterließ nicht zuletzt wegen des öffentlichen Drucks, der dadurch entstanden war, einen zurückgetretenen Wirtschaftsminister. Auch der damalige Bundestagspräsident Rainer Barzel (CDU), wegen einer Millionenzahlung des Flick-Konzerns ebenfalls im Visier, musste seinen Posten räumen. Das Ansehen der Politik war massiv erschüttert worden, aber die Öffentlichkeit wurde gleichzeitig für die komplexen Verbindungen zwischen Industrie und Politik sensibilisiert.
"Untersuchungsausschüsse sind in der Tat immer mehr ein Mittel der politischen Auseinandersetzung geworden, und natürlich hat das auch etwas mit der Entwicklung der Medien zu tun", sagt der Bundestagsabgeordnete Volker Neumann (SPD). Er war selber zwei Mal Vorsitzender eines Untersuchungsausschusses, zuletzt von 1999 bis 2002 im Parteispenden-Ausschuss. "Dennoch haben sie einen reinigenden Charakter, weil sie viele Misstände aufdecken und Anregungen für Gesetzesinitiativen geben", so Neumann weiter.
In Folge des Flick-Untersuchungsausschusses änderte der Bundestag die für seine Abgeordneten geltenden Verhaltensregeln, insbesondere die Angabe von Nebeneinkünften. Reformiert wurde auch das Gesetz zur Parteienfinanzierung. Konsequenzen hatte die Flick-Affäre darüber hinaus direkt für die Arbeit parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. Während der Untersuchung durch das Parlament hatte sich das Finanz- und Wirtschaftsministerium unter Berufung auf Staatswohl und Steuergeheimnis geweigert, vom Ausschuss angeforderte Akten vorzulegen. Das Bundesverfassungsgericht urteilte 1984, dass diese Weigerung dem Artikel 44 des Grundgesetzes, auf dem das Untersuchungsrecht des Parlaments basiert, widerspricht. Die Exekutive dürfe nicht ohne weiteres Akten unter Berufung auf das Staatswohl vorenthalten, denn das Wohl des Staates sei grundsätzlich dem Parlament und der Regierung gleichermaßen anvertraut.
Stellen die politische Auseinandersetzung und der reinigende Charakter tatsächlich zwei verschiedene Aspekte von Untersuchungsausschüssen dar? Neumann verneint dies: "Mich ärgert, dass viele Leute meinen, man müsse die Gesetze sofort ändern. So wurde zum Beispiel noch während der Ermittlungen des Flick-Ausschusses ein neues Parteiengesetz erarbeitet. Man wartetet also nicht das Ergebnis ab sondern verfällt oft in einen Aktionismus." Dieser sei auch politisch motiviert, so Neumann.
Beispiele für solchen Aktionismus sind aber nicht nur zu früh erarbeitete Gesetze: "Insbesondere bei dem CDU-Spenden-Ausschuss stellten sich Ausschuss-Mitglieder bereits nach einzelnen Zeugenaussagen vor die Kameras und unterzogen diese einer politischen Bewertung." Dies sei eine ungünstige Entwicklung, urteilt der Politologe Jürgen Plöhn. Die Bevölkerung sei durch solche "parteipolitisch geprägten Schnellschüsse" nicht mehr in der Lage, sich über politische Ereignisse ein eigenständiges Urteil zu bilden.
Als der Bundestag 1999 den Untersuchungsausschuss zur Parteispendenaffäre der CDU einsetzte, fühlten sich viele Beobachter an die Flick-Affäre erinnert. Nicht nur die Thematik legte das nahe. Auch das enorme Medienecho und die Tragweite der Vorwürfe erinnerten daran. Neben dem Flick-Ausschuss gehört er zu den aufsehenerregendsten Untersuchungsausschüssen des Bundestages. Einen Grund hatte dies auch in der Starbesetzung. Beide Male lud der Ausschuss die politische Prominenz der Bundesrepublik in den Zeugenstand, angefangen vom Bundeskanzler, über Parteivorsitzende bis hin zu Ministerpräsidenten.
Die CDU hatte in den 80er- und 90er-Jahren mit Hilfe von zahlreichen Schattenkonten in der Schweiz versucht, illegale Spenden in Millionenhöhe zu verdecken. In den Rechenschaftsberichten tauchten die Beträge nie auf oder wurden unter "Sonstiges" verbucht. Die Regierungskoalition versuchte, der CDU Käuflichkeit politischer Entscheidungen nachzuweisen. Zwar konnten die Wege etlicher Millionen auf dem Weg in die CDU-Kassen rekonstruiert werden. Ebenso viele blieben jedoch im Dunkeln. Zu Berühmtheit gelangte dabei jene Millionenspende, die Kanzler Kohl Anfang der 90er-Jahre persönlich entgegennahm. Bis heute behält er deren Herkunft unter Berufung auf sein Ehrenwort für sich. Statt dessen geriet auch die Spendenpraxis der SPD im Laufe der Untersuchungen ins Visier des Ausschusses und der Öffentlichkeit. In ihren Abschlussberichten kamen die rot-grüne Koalition und die CDU zu völlig verschiedenen Bewertungen. Als "politische Korruption" bezeichneten SPD und Grüne das Finanzsystem der Bundesregierung unter Helmut Kohl. Sie sahen es als erwiesen an, dass in mehreren Fällen wirtschaftliche Entscheidungen der Kohl-Regierung durch Geldspenden beeinflusst worden waren. Eine positive Bilanz zog die Union. Sie wertete es als wichtigstes Ergebnis der Untersuchungen, dass die Kohl-Regierung nicht käuflich gewesen sei. Auch habe Kohl nicht gegen die Verfassung sondern nur gegen das Parteiengesetz verstoßen. Breiten Raum nahmen in dem Abschlussbericht dagegen Vorwürfe gegen ein "abgeschottetes Finanz- und Beteiligungsimperium" der SPD ein.
Heftige Streitereien
Im Ergebnis dieses Ausschusses blieb nicht nur ein ramponiertes Image der CDU und ihres langjährigen Vorsitzenden Helmut Kohl zurück. Umfassender als noch in den 80er-Jahren verschärfte der Bundestag das Parteiengesetz. Außerdem trug der Ausschuss dazu bei, dass sich der Bundestag nach jahrzehntelangem Streit im Jahr 2001 auf ein Gesetz über Untersuchungsausschüsse einigte. Hintergrund dafür waren heftige Streitereien der Parteien über die Reihenfolge der Zeugenvernehmungen, die das Bild des Ausschusses in der Öffentlichkeit nicht gerade glänzen ließen.
Nun haben die Mitglieder des Visa-Untersuchungsausschusses die Möglichkeit, dieses Bild wieder zu polieren. Das Gesetz von 2001 erlaubt es, und am vergangenen Donnerstag wurde es Wirklichkeit: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurden Zeugen eines Untersuchungsausschusses vor laufender Kamera live befragt. Die vergangenen Streitereien, ob und wann Außenminister Fischer vor den Ausschuss geladen wird, erhalten mit seinem Auftritt heute, vor einem Millionenpublikum, eine völlig neue Dimension. Von einer "Amerikanisierung" der deutschen Politik ist schon die Rede. In den USA gehören Live-Vernehmungen der Polit-Stars vor Untersuchungskommissionen längst zum politischen Alltag. Doch die beteiligten Politiker geben sich ausgerechnet in diesem historischen Moment betont sachlich, wollen von "Inszenierung" nichts wissen und sprechen lieber von "Authentizität". "Die Bürger können sich nun selbst ein Bild von den Zeugen aber auch von der Arbeit des Untersuchungsausschusses machen. Sie sind nicht mehr auf gefilterte Informationen angewiesen", beschreibt Volker Neumann, der stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses, die Vorteile aus seiner Sicht. Allerdings betont er auch: "Für uns sind natürlich die Dokumente die wichtigsten Beweismittel. Die Zeugenaussagen sind eigentlich nicht so wichtig. Für die Öffentlichkeit ist es natürlich umgekehrt." Auch CDU-Obmann Eckhart von Klaeden gab sich im Vorfeld der TV-Übertragungen zurückhaltend: Es gehe nicht um ein Spektakel sondern um eine Befragung, bei der "zufällig eine Kamera anwesend" sei. Woher kam auf einmal diese Unlust am Spektakel? Der Verdacht, auch solche TV-Auftritte politisch für die eigene Position zu nutzen ist doch längst keiner mehr. An der Tendenz aller Fraktionen, nach jeder Zeugenaussage mit einer politischen Bewertung vor die Kamera zu treten hat, hat sich zumindest im Visa-Untersuchungsausschuss bisher nichts geändert - ein Umstand, der nicht gerade für die Bedeutungslosigkeit der Zeugen spricht. Warum sollten die Fernseh-Aussagen auf einmal davon ausgenommen sein? Natürlich können letztlich nur Dokumente das entscheidende Argument für eine Beurteilung bestimmter Sachverhalte liefern. Für eine politische Bewertung durch die Öffentlichkeit, und darauf kommt es in Untersuchungsausschüssen nun einmal wesentlich an, sind aber Details aus den Akten nicht unbedingt nötig. Der Sachaufklärung werden solche Übertragungen wohl nicht dienen, darin sind sich viele Experten einig. "Es interessiert mehr das Wie und das Was", vermutet der Politologe Claus Leggewie: "Was diesen Untersuchungsausschuss betrifft, wird der Ertrag an zusätzlichen Erkenntnissen und mehr Transparenz bescheiden sein."