Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 20 / 17.05.2005
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Tobias Asmuth

Der verärgerte Mann am Bosporus

In der Türkei steht die Stimmung zu einem EU-Beitritt auf der Kippe

Ein so gutes Geschäft hat Kasim lange Jahre nicht mehr gemacht, zuletzt 1983 bei den ersten freien Wahlen nach der Zeit des Militärregimes. Wie damals versinkt Ankara heute in einem Meer aus roten Fahnen, schmücken Halbmond und Stern Fenster und Balkone, hängen Flaggen aus Stoff und Papier in den Läden und Büros. Auf jedem größerem Platz stehen die Verkäufer wie Kasim und sorgen für Nachschub. Auf alten Einkaufswagen bieten sie den patriotischen Schatz eines jeden Türken in verschiedenen Größen an, von der kleinen Standarte für den Konferenztisch bis zur zwei auf vier Meter großen Flagge für das Dach. Die Türken, sagt Kasim, lieben ihr Land wie ihre Mutter.

Der Virus, der sehr zur Freude Kasims das rote Fieber auslöst, ist Anfang März dieses Jahres in Mersin ausgebrochen. Auf einer Demonstration in der anatolischen Provinzstadt versuchten zwei kurdische Jugendliche, eine türkische Flagge zu verbrennen, direkt vor den Kameraobjektiven der anwesenden Fernsehteams. Seit die Bilder abends in die Wohnzimmer von Istanbul, Izmir und Ankara ausgestrahlt wurden, schwappt eine nationale Welle durch das Land, die Stolz und Wut nicht kleiner werden lassen. Die Reformen hätten den Staat geschwächt, nur deshalb konnte es überhaupt zum Fahnen-Frevel kommen, verkündeten Generäle, und warnten davor, dass sich Europa zu sehr in die innern Angelegenheiten des Landes einmische. Erst komme immer die Republik Atatürks, erst dann die Europäische Union. Mit dem Angriff auf Brüssel trafen die Militärs einen sensiblen Punkt. "Viele Türken haben das Gefühl, dass Europa unsere Anstrengungen egal sind", sagt Professor Ihsan Dagi von der Technischen Universität Ankara. Der Politikwissenschaftler verfolgt den Prozess der Annäherung der Türkei an Europa seit Jahrzehnten. "Es ist das erst Mal seit den 90er-Jahren, dass die Zustimmung der Türken zum Beitritt zur Europäischen Union um über zehn auf nun 63 Prozent gesunken ist."

Nachdem Premier Recep Tayyip Erdogan in den vergangenen zwei Jahren eine Gesetzesänderung nach der anderen durch das Parlament gebracht hatte, um sein Land fit für die Verhandlungen mit Brüssel zu machen, wirkte seine Regierung in den vergangenen Monaten regelrecht erschöpft. "Wir haben uns vielleicht eine kleine Auszeit genommen", gesteht Egemen Bagis, außenpolitischer Berater Erdogans, ein, "aber Europa steht immer noch ganz oben auf unser Agenda." Schlimmer als die Reformpause findet Dagi sowieso, dass Erdogan dem Land das Gefühl vermittelt habe, Europa sei ebenfalls noch nicht reif für die Türkei. Seine offen zur Schau getragene Enttäuschung über die reservierte Haltung gegenüber den Türken in vielen europäischen Ländern kam der nationalen Opposition gerade Recht. Schon lange fürchten konservative Kreise in Politik und Gesellschaft sowie das selbstbewusste Militär um das Erbe des Staatsgründers Kemal Atatürk. Die Debatte um den 90. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern gilt ihnen nur als ein weiterer Beleg für ihre These, dass Europa die nationale Einheit der Türkei bedrohe.

Enttäuscht von den Freunden in Europa gibt sich in diesen Tagen auch Onur Öymen, Vize-Präsident der größten Oppositionspartei, der konservativen CHP. "Die Einmischung in unsere Geschichte ist inakzeptabel", sagt Öymen im World Trade Center, einem der vielen schmucklosen Bürogebäude Ankaras. Es brauche keine neue historische Forschung, es stehe schon fest, dass, wenn es überhaupt einen Völkermord gegeben habe, dieser von Armeniern an den Türken verübt worden sei. Auch mit Ratschlägen in der Kurdenfrage solle sich Europa besser zurückhalten, findet Öymen, denn schon jetzt sei eine Grenze der Einmischung erreicht: "Wir haben in diesen Dingen ein Gedächtnis wie ein Elefant."

Die vier großen Tabus

Für den Journalisten Ragip Duran aus Istanbul sind solche Töne altbekannt. Noch immer gebe es in der Türkei vier große Tabus: Der Völkermord an den Armeniern, die Kurdenfrage, die Rolle des Militärs und die Vaterfigur Atatürks. "Die Annäherung an Europa berührt alle diese vier Punkte." Diese Hindernisse auf dem Weg in die Europäische Union könne die Regierung nicht einfach per Gesetz aus dem Weg räumen. "Der Wandel in den Köpfen der Menschen dauert eben länger", sagt Duran, "vielen Türken ist gar nicht klar, dass die Zugehörigkeit zu Europa eine ständige Einmischung aus Brüssel bedeutet." Ihr Stolz und ihre Reizbarkeit würden den Prozess der Anpassung an Europa immer wieder bremsen. Im französischen Referendum über die europäische Verfassung sieht Duran deshalb die nächste Bewährungsprobe für den türkischen Traum von Europa. Wenn die Franzosen ablehnten, werde es für die Regierung enger. "Ein 'Non' zur Verfassung bedeutet für uns ein 'Non' zum EU-Beitritt der Türkei." Im Augenblick liege das Schicksal Erdogans ein bisschen in den Händen der Franzosen, findet Duran.

Auch Beobachter der Europäischen Union in Ankara fürchten, dass bei einem Nein der Franzosen die europäischen Pläne der Türkei weiter an Glanz verlieren könnten. Es habe in der Vergangenheit überall Fortschritte gegeben, berichtet Martin Dawson von der Delegation der Europäischen Kommission in der Türkei. Für die Minderheiten wird in den Schulen jetzt auch Sprachunterricht in Kurdisch oder Arabisch angeboten, und es gibt kurdische Fernseh- und Radiosendungen. Die Frauenrechte wurden gestärkt, Vergehen der Polizei verfolgt, die Folter zurückgedrängt. Bei einem derartigen Modernisierungtsschub sei es fast normal, dass das Pendel auch einmal in die andere Richtung ausschlage. Entscheidend sei nur, dass der Reformprozess nicht gestoppt werde. Die neuen Gesetze brauchten Zeit, um ihre Wirkung zu entfalten. Man dürfe die Türkei auf diesem Weg nicht überfordern, auch wenn er sich im türkischen Fahnenmeer manchmal ein wenig einsam vorkomme. Kein Wunder: Die blaue Fahne mit den goldenen Sternen verkauft Kasim noch nicht. "Vielleicht in zehn Jahren, wenn wir dazu gehören sollten."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.