So viel Geschichte war nie. In den Medien jagt ein historischer Jahrestag den nächsten. Entgegen mancher Befürchtungen hat die Präsenz der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges nicht ab-, sondern deutlich weiter zugenommen. In Anlehnung an den Historiker und Journalisten Jochen Thies ließe sich gar formulieren, das Dritte Reich wiederhole sich in den Medien stets aufs neue. Leitlinien sind dabei die "runden" Gedenktage: die 40., 50., 60. und inzwischen auch die 70. Denn die Gedenkzyklen überschneiden sich: Wenn auch 2005 überwiegend vom 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa geprägt wird, so jähren sich Mitte September doch etwa auch die "Nürnberger Rassengesetze" zum 70. Mal.
Freilich fällt das Gedenken an das Kriegsende noch immer zwiespältiger aus als das an andere Markierungspunkte aus der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands. Zwar hat sich der vor zehn Jahren noch heftig diskutierte Dualismus "Befreiung oder Niederlage" stillschweigend zugunsten des erstgenannten Begriffs aufgelöst. Gleichwohl lassen zumindest diejenigen deutschen Zeitzeugen, die den Einmarsch der Roten Armee miterlebt haben, hier weiterhin Vorbehalte erkennen. Kurzum: Die Erinnerung an den 8. Mai 1945 ist mit Blick auf unsere östlichen Nachbarn nach wie vor komplizierter und in sich gebrochener als hinsichtlich unserer westlichen. Genau da liegt der Ansatzpunkt der beiden hier vorzustellenden Neuerscheinungen.
Die Berliner Zeithistorikerin Elke Scherstjanoi dokumentiert in ihrem Sammelband zunächst auf rund 190 Druckseiten Feldpostbriefe, Befehle und Berichte ins Deutsche Reich einmarschierender Rotarmisten vom Oktober 1944 bis Ende Juni 1945. Es mag an der deutschen Übersetzung wie an der auch in anderen Armeen zu beobachtenden vorauseilenden Selbstzensur der Briefeschreiber liegen, dass die meisten dieser Quellen befremdlich unpersönlich und wie aus vorgefertigten Versatzstücken zusammengefügt wirken. Offenbar wollte man der Militärzensur von vornherein nur das zu lesen geben, was diese mutmaßlich auch zu lesen wünschte oder durchgehen ließ.
Sowjetische Kriegsverbrechen werden daher nur sehr selten und, wenn überhaupt, nur höchst abstrakt als Rache für Erlittenes angedeutet. Der Rotarmist, der aus der Mehrzahl der abgedruckten Briefe spricht, ist korrekt und opferbereit, liegt stets auf der jeweils aktuellen politischen Linie und tritt der deutschen Bevölkerung in stolzer Überlegenheit gegenüber.
Hass und Verachtung
Gerade an diesem Punkt, in der Schilderung der deutschen Bevölkerung, trifft der Leser aber nicht selten auf Formulierungen mit deutlich rassistisch angehauchten Implikationen. "Ach, wie sind sie [die Deutschen] uns allen zuwider. […] Besonders hier auf preußischem Boden. Um das so richtig zu verstehen und zu fühlen, muß man dieses Land und diese Leute gesehen haben. Stumpf und ekelerregend. Äußerlich Menschen, aber in Wirklichkeit Tiere, bereit zu jeder Gemeinheit", schreibt beispielsweise ein sowjetischer Garde-Hauptmann Anfang März 1945 an seine Ehefrau. Und er ist mit dieser Sichtweise kein Einzelfall.
Im zweiten Teil ihres Buches sind neun vorzügliche Aufsätze zu Fragestellungen der Endphase des deutsch-sowjetischen Krieges zusammengetragen. Unter diesen sind drei ganz besonders hervorzuheben: Bernhard Fisch versucht, auf seine 1997 erstmals veröffentlichten Forschungen zurückgreifend, nochmals zu rekonstruieren, was im Oktober 1944 wirklich im ostpreußischen Nemmersdorf geschehen ist. Er arbeitet dabei überzeugend heraus, wie die Zeugenaussagen von der Goebbelspropaganda im nachhinein verfälscht wurden. Nicht, dass in Nemmersdorf Grauenvolles geschehen ist, wird von Fisch in Zweifel gezogen, sondern ob es tatsächlich hinsichtlich Quantität und Systematik jene Dimensionen aufwies, die ihm seither zugeschrieben wurden.
"Die Russen kommen!"
Carola Tischler beschäftigt sich mit den "Vereinfachungen des Genossen Ehrenburg" und kommt dabei zu dem Schluss, das berüchtigte sowjetische Flugblatt mit dem unverhüllten Aufruf zur Vergewaltigung deutscher Frauen werde ihm fälschlicherweise zugeschrieben. Und Christel und Klaus-Alexander Panzig zeigen unter dem Titel "Die Russen kommen!" anhand deutscher Zeitzeugen auf, dass der Einmarsch der Roten Armee von vielen als eine Zeit absoluter Unsicherheit und Unberechenbarkeit erlebt wurde.
Die zweite Neuerscheinung stammt aus der Feder des Warschauer Historikers Jerzy Kochanowski. Sein Thema sind deutsche Kriegsgefangene in Polen 1945 - 1950. Zwar bereitet er dem Fachhistoriker keine Überraschungen, doch handelt es sich bei seiner Untersuchung in der Tat um die erste erschöpfende Überblicksdarstellung zu diesem Komplex. Akribisch und detailliert werden das (organisatorische) Umfeld und die Lebenswelten der Gefangenen durchleuchtet.
Zu Recht lässt Kochanowski von Beginn an keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Verhältnisse im frühen Nachkriegspolen nicht nur für die rund 50.000 deutschen Kriegsgefangenen besonders schwierig waren. Zweimal war der Krieg über Polen hinweggefegt: einmal mit dem deutschen Überfall von 1939, das andere Mal beim Vordringen der Roten Armee nach Westen 1944/45. Und die Besatzer in den Jahren dazwischen waren vorrangig an der rücksichtlosen Ausplünderung von Land und Leuten interessiert.
Kein anderes Land in Europa hatte so furchtbar unter der deutschen Besatzung zu leiden wie Polen. Dass man in Polen nach Kriegsende allem Deutschen zunächst mit Vorbehalten begegnete, ist mithin durchaus nachvollziehbar. Zudem muss die Westverschiebung Polens mit den umfangreichen Umsiedlungsmaßnahmen auch für Polen die ohnehin prekäre Lage noch zusätzlich kompliziert haben. Allerdings schenkt der Autor diesem Aspekt keine Beachtung.
Wenn aber Kochanowski die wirklich rauen Lebensbedingungen der deutschen Kriegsgefangenen facettenreich beschreibt, dann muss stets mit bedacht werden, dass es der polnischen Zivilbevölkerung damals selbst nicht besser ergangen ist. Es spricht für die Unvoreingenommenheit des Verfassers, dass er sich nicht hinter diesem Argument versteckt, wenn er ohne Wenn und Aber sehr kritisch mit dem polnischen Kriegsgefangenenwesen nach 1945 in Gericht geht und unumwunden feststellt, das Völkerrecht sei damals lange Zeit ignoriert worden.
Alles in allem werden in beiden Büchern beherzt und wohltuend sachlich für beide Seiten schmerzliche Tabus im Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn aufgebrochen. Wenn deutscherseits das Leid von Einmarsch, Flucht und Vertreibung beschworen wird, darf dessen Vorgeschichte nicht ausgeblendet bleiben. Gleichzeitig sind aber sowjetische Kriegsverbrechen in Deutschland oder polnische Großzügigkeiten im Umgang mit dem Völkerrecht aufgrund eben dieser Vorgeschichte zwar in gewissem Gerade "verstehbar", aber keineswegs zu rechtfertigen.
Elke Scherstjanoi (Hrsg.)
Rotarmisten schreiben aus Deutschland.
Briefe von der Front (1945) und historische Analysen.
Texte und Materialien zur Zeitgeschichte, Bd. 14.
K.G. Saur Verlag, München 2004; 449 S., 110,- Euro
Jerzy Kochanowski
In polnischer Gefangenschaft.
Deutsche Kriegsgefangene in Polen 1945 - 1950.
Aus dem Polnischen von Jan Obermeier.
fibre Verlag, Osnabrück 2004; 521S., 37,80 Euro