In Nordrhein-Westfalen geht der Wahlkampf in seine letzte Phase. Bei allen Parteien läuft die Wahlkampfmaschinerie auf höchsten Touren. "Noch ist nichts entschieden", heißt es bei Schwarz-Gelb bei Rot-Grün. Bei Rot-Grün klingt dieser Satz beschwörend und mehr sorgen- als hoffnungsvoll. Bei Schwarz-Gelb schwingt in dem gleichen Ausspruch eine erwartungsvolle, allerdings auch noch ein wenig ungläubige Zuversicht mit. Alle wissen: Abgerechnet wird erst am Wahlsonntag. Tatsache ist aber auch, dass Christdemokraten und FDP in den vergangenen Wochen konstant zehn Punkte vor den seit 39 Jahren im bevölkerungsreichsten Bundesland regierenden Sozialdemokraten mit ihrem grünen Koalitionspartner liegen.
Daran hat auch das erste bundesweit an Christi Himmelfahrt bei RTL und zeitversetzt bei n-tv ausgestrahlte Fernsehduell zwischen SPD Ministerpräsident Peer Steinbrück und seinem Herausforderer CDU-Fraktions- und Parteichef Jürgen Rüttgers nichts Wesentliches geändert. Nach Meinungsumfragen bleibt die CDU stärkste Fraktion. Ihr Spitzenmann Jürgen Rüttgers wird allerdings schwächer als Amtsinhaber Ministerpräsidenten Peer Steinbrück eingeschätzt. Daran hat der Schlagabtausch nichts geändert. Passend zu dieser Ausgangslage erlebten die Zuschauer auch vertauschte Rollen. Angreifer war nicht wie gemeinhin üblich der Herausforderer, sondern Amtsinhaber Steinbrück. Rüttgers verteidigte nur die starke Position seiner Partei, während Steinbrück seinen parteipolitischen Gegner mit aller Macht in die Enge zu treiben versuchte. Mit einem Stakkato an Faktenwissen und Zahlen bombardierte der Norddeutsche Steinbrück seinen Widerpart und die Zuschauer vor den Fernsehschirmen.
Dabei wirkte Steinbrück angespannt und teilweise übermotiviert. Verschiedentlich unterbrach er den CDU-Mann und rüffelte ihn mit Sätzen wie "Sie sind nicht bei den Fakten" oder "Sie sind nicht informiert" und hielt ihm vor, er sei dem "Anforderungsprofil" eines Ministerpräsidenten nicht gewachsen. Rüttgers ließ sich nicht provozieren. Er versuchte gar nicht erst, es mit dem Faktengewitter des Sozialdemokraten aufzunehmen, blieb gelassen, fast staatsmännisch, und versuchte mit einem mehrmaligen "Nur nicht so nervös", seinen Konkurrenten in ungünstiges Licht zurücken. Mit seinem Schlusswort setzte er allerdings übertrieben auf Emotionen.
Arbeit an der Basis
BBei den Christdemokraten fällt die Basisarbeit offensichtlich beim Wahlkampf in diesem Frühjahr leichter als bei der SPD. "Unsere Parteimitglieder sind fast übermotiviert. Der Unterschied zum Jahr 2000 ist frappierend", sagt Michael Breuer, CDU-Landtagsabgeordneter aus Erftstadt und Bezirksvorsitzender Mittel-rhein. Die Unionsveranstaltungen seien besser besucht und die Bevölkerung deutlich interessierter. "An unseren Ständen herrscht eine freundliche Grundstimmung, allerdings sind die Wähler auch anspruchsvoller geworden. Sie wollen gepflegt werden. Die Partei muss ihnen inhaltlich schon etwas bieten und ihnen Möglichkeit zur Teilnahme an Diskussionen geben. Bei uns im ländlichen Raum sind vor allem Schule und Bildung, Arbeitslosigkeit sowie Verschuldung bei jungen Menschern und die innere Sicherheit vorrangige Themen", weiß der Christdemokrat aus dem eigenen Wahlkampf. Genervt haben sich viele Wähler von der massiven Plakatierung gezeigt. "Die haben wir daraufhin an vielen Stellen zurückgenommen", erklärt der 40-jährige Breuer, der ansonsten "wirklich guter Dinge ist, dass es diesmal mit dem Wahlsieg endlich klappt".
Mehr Mühe mit den Wählern hat da der Sozialdemokrat Ralf Jäger aus Duisburg. Bei seinen Wahlkampfeinsätzen spielt die Landespolitik oft nur eine untergeordnete Rolle. "Bundespolitische Fragen wie Praxisgebühren bei der Gesundheitspolitik oder ausbleibende Rentenerhöhung und Arbeitslosigkeit sind im städtischen Ballungsgebiet zentrale Themen." Die derzeitige Negativstimmung über die Bundespolitik schlage auf den Landtagswahlkampf voll durch. "Wir können uns die Absätze ablaufen, aber wir werden für Berlin in Sippenhaft genommen", sagt der 44-jährige Jäger. "Die Menschen sind nicht unfreundlich, aber man kommt an sie nicht so richtig heran", meint der Sozialdemokrat. Allerdings glaubt er, seit einigen Tagen eine Veränderung in der Stimmung ausmachen zu können. Angesichts der guten Umfrageergebnisse für die CDU gebe es im Ruhrgebiet zunehmend mehr Menschen, die überlegen, ob sie nicht doch zur Wahl gehen sollen. "Es hat eine neue Nachdenklichkeit bei den NRW-Bürgern eingesetzt und die kann uns noch helfen", hofft Jäger. Insgesamt muss die SPD rund 800.000 vergrätzte Stammwähler zurückholen, die angesichts von Hartz IV der Partei die Gefolgschaft versagt haben.
Für wenig wahrscheinlich hält es die SPD, dass die neue Linkspartei "Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit" (WASG), die im Frühjahr 2004 überwiegend von linken Sozialdemokraten und Gewerkschaftern aus Verärgerung über Hartz IV gegründet wurde, ihr viele Stimmen abnehmen wird. Nach Meinungsumfragen gilt die Wahlalternative als chancenlos und wird mit maximal zwei Prozent gewertet. Damit ist sie ist ebenso bedeutungslos wie die PDS. "Aber natürlich geht jede Stimme für die WASG zu unseren Lasten", weiß auch Ralf Jäger und das tut angesichts des hohen Rückstandes der Genossen besonders weh.
Die Sozialdemokraten sind angesichts der anhaltenden Meinungsflaute reichlich ratlos. Sie begegnen ihr einerseits mit zunehmendem Aktionismus, anderseits aber auch mit Hilflosigkeit und spürbarer Resignation. Der herrschenden politischen Großwetterlage haben sie wenig entgegenzusetzen. Die von Parteichef Franz Müntefering angezettelte Kampagne über Kapitalismuskritik samt Heuschreckenvorwurf mag als taktischer Zug in einem fast verloren wirkenden Wahlkampf geschickt erscheinen, doch bislang hat sie kaum gefruchtet, weil Münteferings Worte von dem in NRW wahlkämpfenden und gelernten Volkswirt Steinbrück nur sehr zögernd aufgenommen werden.
Dass die Lage so gut wie hoffnungslos ist, hat zuletzt Harry Walter deutlich gemacht. Walter gilt als Vater des modernen Wahlkampfs in der Bundesrepublik. Der heute 75-jährige PR-Berater, der einst die Kampagnen für Willy Brandt und Helmut Schmidt führte - und auch Johannes Rau managte - winkte angesichts des desolaten Zustands bei der NRW-SPD Führung müde ab. "Der Peer tut mir leid", wird Walter in der "Süddeutschen Zeitung" zitiert. Der sei in der Düsseldorfer Parteizentrale umgeben von einer Laienspielschar, die Wahlkampf üben dürfe. Es wird immer deutlicher, dass der NRW-SPD die Organisationsreform nicht bekommen ist, die Franz Müntefering vor einigen Jahren durchsetzte, um von Berlin aus den riesigen SPD-Landesverband führen zu können. Dabei haben die Sozialdemokratenen offenbar die Bodenhaftung verloren. Das scheint sich jetzt zu rächen.
Bei den Christdemokraten herrscht dagegen vorsichtige Aufbruchsstimmung. Weder der Vorwurf, dass Jürgen Rüttgers als Aussitzer an die Macht wolle, noch dessen unglückliche Äußerung in der N24-Sendung "Studio Friedman" über die Höherrangigkeit des katholischen Glaubens, die fatal an den Schnitzer aus dem letzten Wahlkampf 2000 erinnerte, als Rüttgers durch seine Bemerkung "Kinder statt Inder" sich selbst in Abseits manövrierte, noch die Aufstellung von alt gedienten innerparteilichen Kritikern wie Christa Thoben und Helmut Linssen zu Schattenministern, konnten ihm bislang schaden.
Während die Sozialdemokraten auch im Schlussspurt vor allem ihren Ministerpräsidenten herausstellen und die Union mit einem 200-Tage-Programm zu punkten versucht, sorgen sich die kleinen Parteien, im Schlagabtausch der Großen unterzugehen. Vom Lagerwahlkampf, wie ihn alle vier im Landtag vertretenen Parteien vor einem Monat verkündeten, ist angesichts des Einstimmenwahlrechts in NRW kaum noch etwas zu spüren. Verbissen kämpfen alle Parteien um möglichst viele Stimmen. Dabei beharken sich die kleinen Parteien besonders kräftig. Grüne und FDP streiten um Platz drei im Landtag.
Bei der Landtagswahl 2000 hatten die Liberalen mit dem wirbeligen, auf Knalleffekte setzenden Jürgen W. Möllemann die Grünen überrundet. Jetzt wollen sich die Grünen diesen Platz zurückerobern. Das ist durchaus kein aussichtsloses Unterfangen. Denn dem blau-gelben Tandem von Fraktionschef Ingo Wolf und Parteichef Andreas Pinkwart fehlt es zwar nicht an Sachkompetenz, wohl aber müssen die beiden ständig gegen das Übersehenwerden ankämpfen. Die Öko-Frontfrau Bärbel Höhn hat dieses Defizit des Spitzenmannes Ingo Wolf zugespitzt auf die Formel gebracht, Ingo Wolf wirke wie die "personifizierte Büroklammer". Diese Charakterisierung wird nicht gerade dadurch verbessert, dass bekannt wurde, dass Ingo Wolf als ehemaliger Richter und Oberkreisdirektor mehr als der Bundeskanzler verdiene. Auch die postwendend von den Liberalen bekannt gemachte Richtigstellung, dass 50.000 Euro von diesem Geld in eine eigens eingerichtete Stiftung für benachteiligte Kinder flössen, entspannte die aufgeheizte Wahlkampfstimmung zwischen Grünen und Liberalen nicht wirklich.
Dem Plakat "grün wirkt" setzt die FDP ihr Motto "Arbeit hat Vorfahrt" entgegen. Die Alternativen sind eindeutig. Während die Öko-Frau Höhn sich über rotierende Windkrafträder und neue Fahrradwege freut, werfen die Liberalen den Grünen vor, Bio- und Gentechnik zu blockieren, Straßenbau zu verhindern und den für eine Exportnation unverzichtbaren Ausbau von Flughäfen zu torpedieren. NRW könne es sich aber nicht leisten, dass Rot-Grün Wachstum und Beschäftigung blockierten, so die FDP. Sozusagen als Antwort auf die "personifizierte Büroklammer" versuchte sich Ingo Wolf in dem Vergleich, dass Frau Höhn eine "leibhaftige Innovations- und Investitionsbremse" und zugleich der "größte Irrtum" sei, den sich NRW in den letzten zehn Jahren geleistet habe.
Die Grünen haben mit ihrem Spitzenduo Umweltministerin Bärbel Höhn und Vizeministerpräsident Michael Vesper zwei Politiker, die mit zehn Jahren Ministererfahrung grünen Rekord halten und außerdem werbewirksam sind. Die Fraktionschefin Sylvia Löhrmann sieht den Schlagabtausch mit den Liberalen denn auch gelassen. "Der Wahlkampf läuft für uns gut. Nachdem aus der Visa-Affäre die Luft heraus ist, haben wir keine Sorgen. Natürlich wollen wir uns noch steigern. Das ist bei dem Interesse, das wir bei unseren Wahlkampfveranstaltungen finden, auch gut möglich." Derzeit liegt die Öko-Partei stabil bei acht Prozent, während die Meinungsinstitute der FDP ebenfalls recht konstant sieben Prozent geben.
Problem mit dem Doppelpass gelöst
NRW-Innenminister Fritz Behrens kann mittlerweile von einer zunächst bedrohlich wirkenden Wahlfront Entwarnung melden. Das Ministerium befürchtet kurz vor der Wahl keine Probleme durch eine unberechtigte Stimmabgabe von Türken mit einem Doppelpass und damit auch keine Wahlanfechtung. Nach einer Gesetzesänderung aus dem Jahr 2000 verliert seine deutsche Staatsangehörigkeit, wer zusätzlich zu dem deutschen Pass eine weitere Staatsangehörigkeit annimmt. Wie Anfang des Jahres bekannt wurde, waren zwischen 2000 und 2004 etwa 50.000 türkischstämmige Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hatten, wieder in den türkischen Staatsverband eingebürgert worden und dürfen sich damit nicht an der Landtagswahl beteiligen. Nach Angaben des Ministeriums ist eine von den Meldebehörden eingeleitete Briefaktion auf gute Resonanz gestoßen. Zwischen 79 und 90 Prozent der Angeschriebenen meldeten sich, da die Behörden zugesichert haben, in diesen Fällen wohlwollend über eine Wiedereinbürgerung oder einen rechtmäßigen Aufenthalt zu entscheiden. In Bottrop haben beispielsweise von 618 Angeschriebenen bislang 98 Prozent (603) geantwortet. Davon gaben 62 an, dass sie einen türkischen Pass besitzen. In Duisburg wurden 5.522 Personen angeschrieben, 87 Prozent (4.812) antworteten. Davon gaben 233 an, die türkische Staatsangehörigkeit wieder angenommen zu haben. In Köln wurden 6.970 angeschrieben, 5.526 (79) Prozent antworteten bisher, davon 25 mit türkischen Pass. Zusätzlich zu der Briefaktion wird am Wahltag mit Anschlägen und von den Wahlhelfern nochmals auf ein Verbot der Doppelstaatlichkeit hingewiesen. Nach Auffassung des Ministeriums ist damit eine Wahlanfechtung so gut wie unmöglich, zumal bei einer Wahlanfechtung nachgewiesen werden müsste, dass die falsche Wahl den Wahlausgang entscheidend verändert habe.
Zur Landtagswahl am 22. Mai 2005 treten in 128 Wahlkreisen 1343 Kandidaten an. 1224 Bewerber kämpfen um ein Direktmandat. Die Reservelisten enthalten 660 Bewerber, von denen 541 zugleich in den Wahlkreisen kandidieren. Neben den vier im Landtag vertretenen Parteien, SPD, CDU, FDP und Grüne treten nur die Republikaner und die SPD-Abspaltung WASG flächendeckend mit Direktkandidaten an. Jeder fünfte Direktkandidat (273) ist eine Frau. Insgesamt stellen sich 24 Parteien zur Wahl.