Edith Rosh wurde 1936 in Berlin geboren und protestantisch erzogen. Mit 18 hat sie sich in Lea umbenannt und trat aus der Kirche aus. 1968 trat sie wegen Willy Brandts Ostpolitik in die SPD ein. Die streitbare Journalistin machte Karriere im Hörfunk und als erste Moderatorin des ZDF-Magazins "Kennzeichen D", bevor sie durch Dokumentationen über den Massenmord an den europäischen Juden sowie den Sinti und Roma bekannt wurde. Lea Rosh war erste Direktorin des NDR-Funkhauses in Hannover. Seit 1999 leitet sie in Berlin eine eigene Firma zur Entwicklung von Dokumentationen und Features. 1988 gründete sie einen "Förderkreis zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas"und betrieb seitdem unermüdlich die Errichtung eines durch die israelische Gedenkstätte Yad Vashem inspirierten Mahnmals.
Das Parlament: Frau Rosh, welche Gefühle löst bei Ihnen die Eröffnung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas aus, das sie vor 17 Jahren initiiert haben?
Lea Rosh: Dankbarkeit, dass wir es geschafft haben, auch Dankbarkeit denen gegenüber, die uns geholfen haben. In allen Parteien haben uns Menschen unterstützt, sonst hätten wir es gar nicht geschafft.
Das Parlament: Wie kamen Sie zu der Idee, im Zentrum Berlins ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas zu errichten?
Lea Rosh: Die Idee hatte der Historiker Eberhard Jäckel. Als wir zusammen an der Dokumentation über den Mord an den europäischen Juden arbeiteten, sagte er mir bei einem Israel-Besuch, dass es in Deutschland keine Gedenkstätte für die europäischen Juden gäbe. Ich sagte ?Du hast Recht. Dann fahre ich nach Berlin zurück, und dann werden wir dieses Denkmal bauen.' Das war es. Dann habe ich meiner Bürgerinitiative die Idee vorgetragen und sie davon überzeugt.
Das Parlament: Welche Ziele setzten Sie sich mit diesem Denkmal?
Lea Rosh: Wir wollen an die Tat erinnern und das mitten in der alten und neuen Hauptstadt. Es kann nicht sein, dass Deutschland zur Tagesordnung übergeht, als sei nichts gewesen. Es ist das größte Verbrechen, das die Deutschen in ihrer Geschichte auf sich geladen haben. Wir wollten zweitens die Ermordeten ehren, die so schändlich ausgestoßen und gedemütigt wurden. Und wir wollten ihnen drittens ihre Namen zurückgeben, denn sie sind namenlos ermordet worden. Deswegen war es kein Zufall, dass wir uns so für diese Namensplatte eingesetzt haben.
Das Parlament: Sie stellen immerhin im unterirdischen Namensraum 1.000 Namen und Schicksale von Ermordeten in Bild und Ton aus.
Lea Rosh: Wir möchten alle Namen seh- und hörbar machen. Wir haben fünf Jahre hart gearbeitet, bis wir eine elektronische Namensdatei von Yad Vashem bekommen haben, auf der alle 3,5 Millionen Namen verzeichnet sind, die bisher gesammelt wurden.
Das Parlament: Warum weigerte sich die Jerusalemer Gedenkstätte, die Namen herauszugeben?
Lea Rosh: Erstens, sagten sie: wir haben Jahrzehnte an diese Kartei gearbeitet. Wenn Menschen das lesen wollen, sollen sie nach Yad Vashem kommen. Zweitens sagten sie: wir, Land der Opfer, können nicht euch, Land der Täter, die Namen unserer ermordeten Juden geben. Es war nichts zu machen. Dann wurde der Holocaustforscher Jäckel 70 Jahre alt; Yad Vashem hat ihm zu Ehren ein Colloquium veranstaltet, zum ersten Mal überhaupt für einen Historiker. Am letzten Tag gab es in einer Privatwohnung von einem der Direktoren einen Abschlussempfang. Dort haben wir noch mal um die Namen gebeten, und es hat geklappt, weil sie von der Ernsthaftigkeit der Bundesrepublik überzeugt waren, das Denkmal zu errichten. Wir sind die einzige Außenstelle von Yad Vashem, die diese Namen hat. Das Washington Holocaust Museum wollte sie immer haben und hat sie nie bekommen.
Das Parlament: Welche Gefühle haben Sie bei einem Gang durch das Denkmal ?
Lea Rosh: Das Bedrohliche, was die Menschen damals empfunden haben. Diese Art von Verlassenheit versuche ich mir vorzustellen, wenn ich durch das Stelenfeld gehe. Mir fällt es nicht schwer, weil ich über die Geschichte der Ermordung der Juden sehr viel weiß. Wie verlassen, wie gedemütigt sich diese Menschen damals gefühlt haben.
Das Parlament: Oft wird gesagt, dass die Deutschen heute für den Holocaust keine Schuld, aber eine Verantwortung tragen. Teilen Sie diese Ansicht?
Lea Rosh: Ich finde das mit der Verantwortung ein nettes Wegschleichen. Für den Mord an den Juden hat keiner, der heute lebt, Verantwortung. Wir haben nur eine Verantwortung dafür, wie wir damit umgehen. Aber die Schuld trägt sich weiter, und die müssen wir Deutschen alle schultern, auch wenn wir dafür keine Verantwortung haben. Wir können nicht nur das Nette in unserer Geschichte erben, sondern den Holocaust auch. Deutsche Geschichte ist nicht nur Goethe und Schiller und Beethoven.
Das Parlament: Hat Sie die jüdische Gemeinde im Laufe der Jahre bei dieses Projekt unterstützt?
Lea Rosh: Als die wir Idee zu diesen Denkmal hatten, sind wir zu Heinz Galinski gegangen, dem damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Berlin und des Zentralrats der Juden. Wir haben ihm das vorgestellt, und er fragte: ?Was soll ich tun?' Ich sagte: ?Gar nichts, aber wenn Sie gefragt werden, wäre es schön, wenn Sie nicken könnten.' Er sagte: ?Wie könnte ich zu so einem wunderbaren Vorhaben nicht nicken?' Auch Galinskis Nachfolger Jerzy Kanal war dieser Meinung, genauso sein Nachfolger Alexander Brenner. Dessen Nachfolger Albert Meyer hat zu meinem Entsetzen gesagt, dieses Denkmal sei für ihn blanker Horror. Ignatz Bubis hat gesagt, er brauche das Denkmal nicht. Wir bauen es nicht für ihn. Wir bauen es für das Selbstverständnis der Deutschen. Viele Juden wünschten sich einen Ort, wo sie ihrer ermordeten Verwandten gedenken können, die kein Grab haben. Warum sollen alle Juden gleicher Meinung sein? Das gibt es auch unter den Nichtjuden nicht.
Das Parlament: Eine lange Diskussion begleitete dieses Denkmal: Warum soll ausschließlich der Juden gedacht werden und nicht allen Opfern. Mit diesem Argument werden Sie sicherlich immer wieder konfrontiert. Was antworten Sie darauf?
Lea Rosh: Viele haben tatsächlich gesagt: ?Wieso kriegen die Juden wieder eine Extra-Wurst?' Ich sagte: Ja, weil sie in der Ermordung auch eine "Extra-Wurst" kriegten. Die Zahl sechs Millionen ist singulär. Die Art der Ermordung ist ein einzigartiger Vorgang in der Geschichte. Die Zahl der deutschen Juden betrug 2,5 Prozent an der Gesamtzahl der ermordeten Juden. Alle anderen waren Ausländer, die aus 17 Ländern in die Vernichtungsstätten deportiert wurden, wo sie industriell ermordet wurden. Das hat es in der Geschichte noch nie gegeben. Das war der Vollzug von 2.000 Jahren Antisemitismus auf diesem Kontinent.
Das Parlament: Wie schätzen Sie die Reaktionen auf das Denkmal in der deutschen Bevölkerung?
Lea Rosh: Ich würde sagen, dass die Hälfte der Bevölkerung dafür ist und die Hälfte dagegen.
Das Parlament: Wie argumentierten die Gegner des Projektes?
Lea Rosh: Manche sagten, dass man mit einem solchen Denkmal gar nichts mehr machen kann, weil diese Methode des Gedenkens völlig veraltet sei. Andere hielten mir vor, dass ein Denkmal einen Schlussstrich unter die Auseinandersetzungen über die Judenvernichtung sein würde. Das Gegenteil ist in Hannover der Fall gewesen (wo auf ihr Betreiben 1994 ein Denkmal mit den eingemeißelten 2.000 Namen ermordeter Juden der Stadt eingeweiht wurde, Anmerk. d. Red.). Außerdem hat die jahrelange öffentliche Diskussion um das Denkmal in Berlin mehr Menschen dazu gebracht, sich damit zu beschäftigen.
Das Parlament: In Deutschland wird zunehmend über die deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges gesprochen. Wie stehen Sie zu dieser Debatte?
Lea Rosh: Natürlich ist es schrecklich gewesen in Dresden und Hamburg, wo jeweils 30.000 Tote gezählt wurden. Aber wer hat eigentlich damit angefangen? Die Deutschen haben London und Coventry bombardiert, wir haben die Welt in Brand gesteckt. Dann gab es eine Antwort dieser Welt darauf. Natürlich sind die Deutschen auch Opfer ihrer eigenen Verblendung geworden.
Das Parlament: Sie sehen die Realisierung ihres Lebenstraums, planen jedoch bereits das nächste Mahnmal. Können Sie dazu etwas erzählen?
Lea Rosh: Das Denkmal für die ermordeten Juden in Hannover war Vorbild für Frankfurt. Ich bin seit Jahren dabei, so etwas auch für Berlin zu realisieren. Unsere Berliner Juden - auch meine Tante Else übrigens (Roshs Großvater war jüdisch) - müssen namentlich genannt werden in der Stadt. Es reicht nicht, dass wir am Holocaust-Tag die Namen verlesen.
Das Interview führte Igal Avidan