Bilder sind es, die Amerika derzeit nicht zur Ruhe kommen lassen. Bilder, die eigentlich keiner sehen möchte und dank der Gnadenlosigkeit der Medien doch jeder kennt. Nicht nur die aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib. Während die Folterbilder immer noch die europäischen Medien in Atem halten, zeigt sich in den USA die Tendenz, diese als "Ausrutscher" allmählich abzutun und ihnen keine Top-Aufmerksamkeit mehr zu zollen. Schließlich hat noch nicht einmal Verteidigungsminister Donald Rumsfeld seinen Hut nehmen müssen.
Doch dem nationalen Verdrängungswunsch wird aus dem eigenen Land der Garaus gemacht. Der Regisseur Michael Moore, in Hollywood hinlänglich als enfant terrible verschrien, hat den Dokumentarfilm "Fahrenheit 9/11" gedreht und dafür in Cannes die Goldene Palme erhaltent: ein neuer Schlag in die Magengrube der verletzten amerikanischen Bürgerseele und eine schallende Ohrfeige für Präsident George W. Bush.
In Anspielung auf den Erfolgsroman "Fahrenheit 451" von Ray Bradbury sowie den Tag des Terroranschlages auf die USA am 11. September 2001, in Amerika kurz 9/11 genannt, hat Moore aus einer Fülle von Foto- und Fernsehaufnahmen ausländischer Kameramänner, etwa des britischen Channel Four, freier Foto-Journalisten und nicht gesendeten Materials amerikanischer TV-Stationen, die ihm Video- und Fotoaufnahmen heimlich zuspielten, einen "Reality-Film" zusammengestellt. Wir sehen - in allen Details -, wie amerikanische Soldaten und irakische Zivilisten im Feuergefecht sterben, wie ihre Körper zerrissen werden und Fleischfetzen durch die Luft fliegen, während aus Arterien Blut speit gleich einem Brunnen. Fast möchte man meinen, Moores Doku ist ein Hollywoodstreifen von Steven Spielberg. Starben so nicht auch die Kameraden von "Private Ryan"? Doch die, die da im "close-up" krepieren, sind echte Menschen.
Wir sehen auch einige der mehr als 4.000 amerikanischen Kriegsverwundeten, die die Regierung in Militär-Kliniken vor der Öffentlichkeit versteckt, weil ihre Körper, ihre Psyche zerstört sind.
Vielleicht mehr noch als die echten Kriegsbilder, die jedoch teilweise hollywood-like wirken, schockiert der unmittelbare Blick ins Weiße Haus. Da sieht man einen George Bush, wenige Minuten bevor er der Nation und der Welt via Fernsehen mitteilt, dass Amerika Saddam Hussein angreifen wird, wie er mit der Kamera-Crew herumalbert und seine Augen spielerisch zuhält wie ein "Kuckuck"-versteckspielendes Kleinkind.
Fox News, das inzwischen CNN an Zuschauerzahlen überholt hat und den Stellenwert eines Staats-Fernsehens einnimmt, geiferte sofort: "typisch französisch". Damit war für den Rechtsaußen-Sender das Thema vom Tisch. Kein Wort davon, dass vier der Jury-Mitglieder in Cannes Amerikaner waren.
Breiten Raum fand indes die Berichterstattung über Alexandra Kerry, die Tochter des demokratischen Präsidentschaftskandidaten John Kerry. Die 30-Jährige war mit einem unscheinbaren Zwölf-Minuten-Film in Cannes vertreten. Doch ihr schwarzes Abendkleid erschien im Blitzlichtgewitter derart durchsichtig, dass die Medien Fotos von ihr mit Blendbalken über Busen und Schoß druckten. Kein Pluspunkt für den Daddy, der trotz des angeknockten Präsidenten keine hohen Sympathiewerte genießt.
Deshalb sind die amerikanischen Medien, die sich seit eh und je offen zu einem der beiden Kandidaten bekennen, irritiert. Die Journalisten wissen nicht mehr, wen sie unterstützen wollen. Anders als Fox News langen die großen Zeitungen und Sender kritisch zu. Mit bitter-beißendem Sarkasmus stellten etwa die "New York Times" und die "Washington Post" in langen Rezensionen und Kommentaren fest, dass Moores Film in der ganzen Welt gezeigt werde, nur nicht zu Hause.
So, wie jüngst der amerikanische Kongress befand, dass die Freigabe sämtlicher Folterbilder im Irak der Nation nicht "zugemutet" werden könne, so glaubt, versehen mit ein wenig Druck des regierungstreuen Disney-Giganten, in einer Art pensée unique nun auch die amerikanische Kino-Welt, dass ein Dokumentarfilm, der über zwei Stunden sterbende Soldaten, jammernde Mütter sowie einen feixenden Präsidenten vorführt, keine Zuschauer finden wird. Amerika packt sich selbst in Watte.
Kollektives Wegsehen
Vor 60 Jahren hatten die Amerikaner diese Hemmung nicht - weil es nicht sie, sondern andere betraf. Mich erinnert dieses kollektive Wegsehenwollen der USA an die Berichte meines Vaters aus seiner Kriegsgefangenschaft in Fort Sill, Oklahoma. Bis Kriegsende 1945 wurden deutsche Kriegsgefangene in den USA überwiegend gut behandelt. Eines Morgens im Sommer 1945 jedoch gab es für sie kein Frühstück in Speisesaal des Gefangenenlagers. Stattdessen zeigten düster blickende Wachmänner Filmaufnahmen: aus Dachau, Buchenwald, Auschwitz; nackte Skelette wie Abfall aufeinandergetürmt, Gaskammern, Öfen mit Leichenteilen. Meinem Vater und seinen Kameraden wurde übel, sie waren schockiert, aber sie verstanden, warum ihnen Amerikaner diese Bilder zumuteten.
Jetzt, da es um sie selbst geht, wollen regierungsnahe Interessengruppen die amerikanische Nation der Wahrheit lieber nicht ins Auge sehen lassen. Denn was wäre das Ergebnis einer kritischen Selbstanalyse? Es würde offenbaren, dass nicht der Präsident allein "kriegslüstern" war. 80 Prozent der Amerikaner und die Mehrheit im Kongress - auch ein beträchtlicher Teil der oppositionellen Demokraten - stimmten von Herbst 2001 bis Frühjahr 2003 der Politik von Präsident Bush zu. Heute möchte man davon nichts wissen. Und das alles nur aufgrund von Fotos und Videos. "Es gibt keinen schlechten Frieden oder guten Krieg", sagte einst Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA.
Es ist Zeit für Washington, den "guten Krieg" im Irak zu beenden. Stichtag könnte der 30. Juni sein. Zum ersten Mal in der Geschichte des Irak soll eine freie Regierung das Land zwischen Euphrat und Tigris regieren. Die USA haben es in erster Linie dem UN-Gesandten Lakhdar Brahimi überlassen, jene 30 Posten zu vergeben, aus der die Übergangsregierung des Irak gebildet werden soll. Vor kurzem zauberte er einen Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt hervor: den Atomphysiker Hussain Shahristani. Seine Expertise: nichts weiter als ein Artikel im Wall Street Journal am 29. April! Sagt der UN-Vertreter. Sonst aber ist der stille Shahristani politisch weitgehend unbeleckt. Vielleicht ist dies der Grund, warum das US- Außenministerium die Nominierung unterstützt.
Die Vorteile des 62-Jährigen: Er hat keine namhaften Gegner, und seine Vergangenheit spricht für ihn. Er wurde von 1979 bis 1991 durch Saddam Hussein in das nun weltweit bekannte Gefängnis Abu Ghraib gesteckt. Shahristani hatte sich geweigert, dem Diktator seine nuklearwissenschaftlichen Kenntnisse für den Bau von Atombomben zur Verfügung zu stellen. Außerdem ist er Schiite und damit Repräsentant der Bevölkerungsmehrheit des Irak und als solcher eng befreundet mit der Grauen Eminenz des Landes, dem einflussreichen Groß-Ayatollah Ali Sistani, ohne den keine Übergangsregierung gebildet werden kann.
Doch bis dahin sind noch schwierige Fragen zu klären. Die Kurden im Norden machen Trouble. Ursprünglich war ihnen einer der beiden Vize-Präsidentenposten zugesagt worden. Davon ist keine Rede mehr seitens der UNO. Also beanspruchen die Kurden nun vier der mächtigsten Ministerposten, etwa Außen- und Verteidigungsamt. Unwahrscheinlich, dass sie beide Ministerien zugesprochen bekommen.
Auch herrscht große Verärgerung unter den irakischen Politikern - und der Kandidat Shahristani ist einer der namhaftesten Kritiker -, dass die USA keinerlei Anstalten für eine richtige freie Wahl getroffen haben. Unbestimmt ist davon die Rede, im nächsten Jahr eine demokratische Wahl zur Bildung einer freien irakischen Regierung durchzuführen. Bis dahin liegt diese Entscheidung indes nicht in der Hand der von der UNO benannten Übergangsregierung. Größter Streitpunkt indes ist die Beschränkung des Handlungsspielraums dieser Interimsregierung. Während der lautstarke Kriegsgegner Frankreich im Entwurf zur UN-Resolution, die die Befugnisse der neuen irakischen Regierung definieren soll, die totale Handlungsfreiheit und einen echten Machtwechsel für die Iraker fordert, tun sich die Amerikaner schwer, die Kontrolle über das Land sowie den Einsatz ihrer Truppen aufzugeben.
Sie wollen am liebsten nur ein "bisschen" Selbstregierung des Irak entsprechend ihren Sicherheitsinteressen. Frankreich und teilweise der US-Alliierte Großbritannien hingegen wollen in der anstehenden UN-Resolution einen festen Wahltermin für Anfang 2005 festlegen sowie eine Abstimmung der Iraker über den Verbleib ausländischer Truppen in ihrem Land. Wie bei solchen Gegensätzen üblich, wird im UN-Sicherheitsrat am Ende ein Kompromiss zustandekommen, der Keinem passt, am wenigsten den Irakern. Auch wenn sich Präsident Jacques Chirac vor der UNO als Interessenvertreter für die Irakis aufschwingt, mutmaßen viele Iraker, dass Frankreich nur eigene machtpolitische Spiele betreibe. Denn aufgrund der langjährigen engen Geschäftsbeziehungen seiner Großfirmen, insbesondere im Ölbusiness, mit Saddam, ist manchen Irakern eine wenn auch abgespeckte Militärpräsenz der Amerikaner für die nächsten Jahre lieber als eine völlig souveräne eigene Regierung, die keine innere Sicherheit des Landes garantieren kann. Dieses Manko wird noch lange das eigentliche Problem jeder Irak-Politik bleiben. Und es wird sich darüber erweisen, ob es den USA gelingt, die erste funktionierende Demokratie auf arabischen Boden auf die Beine zu stellen.