Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 23-24 / 01.06.2004
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Johannes L. Kuppe

Von den neuen Ländern lernen

Ost- und Westdeutsche müssen gemeinsam die Zukunft gestalten

Wenn sich 20 Journalisten, Politologen, Historiker, Kulturwissenschaftler und aktive Politiker Gedanken über die Zukunft Deutschlands machen, muss man keine große Homogenität erwarten. Was zählt, sind Originalität und Solidität der eigenen Gedanken. Beides kann man allen Autoren dieses Bandes bescheinigen, - mit einer Einschränkung: Die meisten Beiträge verharren zu lange in - allerdings sehr realistischen - Zustandsdiagnosen vor allem über Ostdeutschland, es mangelt an konkreten Zukunftsprojekten. Wenn sich Ostdeutsche (endlich) in den innerdeutschen Kommunikationsprozess mehr als bisher einschalten, ist man gespannt, ob und welche Impulse sie gegeben.

Eine gemeinsame Botschaft dominiert in mehreren Versionen: Die Westdeutschen können von den Erfahrungen der Ostdeutschen aus den letzten 13 Jahren lernen; sie müssen es sogar, wenn das ganze Land den gesellschaftlichen Umbruch erfolgreich abschließen will. Vor allem müssen die Westdeutschen erstmal genau hinsehen, was "drüben" eigentlich passiert (ist). Es ist wahrlich keine erfahrungslose Prophetie, wenn Tanja Busse und Tobias Dürr einleitend prognostizieren, "dass die Umbrucherfahrungen der Ostdeutschen dem Westen der gemeinsamen Republik erst noch bevorstehen".

Manchmal wird der Leser nach pessimistisch stimmenden Beobachtungen mit optimistischen Visionen entschädigt. So deprimiert nicht wenig, wenn Uwe Rada zunächst über die Entvölkerung ostdeutscher Städte und die De-Industrialisierung ganzer ostdeutscher Regionen klagt. Dann aber verweist er auf den Erfindungsgeist, Innovationswillen und die Kooperationsbereitschaft zum Beispiel in den deutsch-polnischen Grenzmilieus, wo, fast unbemerkt, Keimzellen eines neuen, zusammenwachsenden Europas entstanden seien, die die Ostdeutschen geradezu als Pioniere eines neuen Europa erscheinen lassen.

Hübsch zu lesen, aber nicht gerade originell ist der Vorschlag des Berliner Kultursoziologen Wolfgang Eng-ler, die deutsche Arbeits- und Sozialwelt nach skandinavischem Vorbild umzubauen, wo doch alles ganz prächtig funktioniere. Mitnichten! Einen Einwand for-muliert Engler schon selbst: In kleinen Staaten lässt sich manches leichter organisieren, als in zehnmal so großen. Engler übersieht ein großes Hindernis für eine derartige Transformation: Arbeitswelten haben ihre eigenen Traditionen, manchmal sehr alte. Sie lassen sich nicht kurzfristig, meist nicht einmal mittelfristig durch rationalistische Reformen von heute auf morgen und dazu noch in Krisensituationen umbauen. Wenn überhaupt, gelingt das nur langfristig, in ganz kleinen Schritten. Darüber hinaus wird das nordische Modell auch vor Ort immer stärker in Frage gestellt.

Von Engler stammt der auf Westdeutsche provokant wirkende Spruch "Die Ostdeutschen als Avantgarde". Wie das auch gemeint sein könnte, macht Matthias Platzeck, der Ministerpräsident Brandenburgs, in seiner vorzüglichen Diagnose deutlich. Die Ostdeutschen haben bereits die Erfahrung eines absterbenden Gemeinwesens, der DDR, gemacht, erleben also die gegenwärtige Situation nicht in derselben Weise als Krise wie die Westdeutschen. Diese stürzen in die aktuelle Umbruchsituation mit der trügerischen Selbstsicherheit der bisher stets Erfolgreichen und erleben sie als Absturz, dessen erste Version der Osten schon hinter sich hat. Mit Genuss liest man daher auch, wie Platzeck das Katastrophengefasel ehemals prominenter Westdeutscher (Arnulf Baring: "Bürger auf die Barrikaden") schier der Lächerlichkeit preisgibt.

Manche Beiträge müssten den politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten in Deutschland zur Pflichtlektüre gemacht werden. Wir sind wohl tatsäch-lich auf dem falschen Weg oder bemühen uns wenigstens nicht ausreichend um den richtigen. Tobias Dürr schildert eindrücklich, warum wir an einer Weggabelung stehen: "Wer in Zukunft noch einmal Wachstum, Wohlstand für viele und eine sozial integrierte Gesellschaft erlangen will, wird völlig andere Wege einschlagen müssen als jene, die das heute verblichene Wirtschaftswunderland einst so erfolgreich machten. Die westdeutsche Vergangenheit als Modell und Vorbild für die wiedervereinigte Zukunft - das jedenfalls konnte von Anfang an nicht gut gehen." Fehler, die gemacht wurden, sind, so Dürr, nicht mehr reparierbar. Aber noch ist es nicht zu spät, neue Fackeln der Hoffnung wenigstens für die Kinder der Ausgeschlossenen zu entzünden. Der neue Weg heißt mehr Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung für viel mehr Menschen als heute. Sonst drohe der Niedergang zum unumkehrbaren "Großtrend" zu werden.

Schließen wir mit dem Beitrag des Kultursoziologen Detlef Pollack aus Frankfurt/Oder. Er gibt Antwort auf Fragen, die von den ewig wiederholten und sicher nur teilweise richtigen Zuschreibungen an die Adresse der Ostdeutschen zugedeckt werden. Ihre vermeintlich riesige Bastel- und Chaoskompetenz kontrastiert doch auf merkwürdige Weise mit ebenso vermeintlicher Lethargie, Hoffnungslosigkeit und wieder aufkeimender DDR-Nostalgie, die angeblich selbstsichere westdeutsche Konsumbürger "drüben" glauben feststellen zu können. Warum sollten gerade "die uns" als Avantgarde dienen? Warum wird ihnen noch nicht einmal richtig zugehört?

Sie haben, so Pollack, noch "keine Stimme im gesamtdeutschen Diskurs gewinnen" können, weil sie selbst noch keine "kritische und faire Auseinandersetzung mit dem Leben in der DDR" geführt, nach "ihrer Verstrickung in das DDR-Regime" gesucht haben, weil sie "sich gezwungen fühlen, einen wichtigen Teil ihrer selbst zu verleugnen, zu beschönigen, zu verdammen, zu belächeln, zu ironisieren, zu heroisieren". Pollack formuliert dies ausdrücklich nicht als Vorwurf, sondern als diagnostische Feststellung. Doch schlagartig wird klar, was für die innere Integration Deutschlands noch zu tun bleibt.

Dieses Buch hat große Verdienste, die freilich erst zum Tragen kommen, wenn es viele Menschen auch lesen. Da wird mit Vereinigungsmythen aufgeräumt (Frank Decker), das wird Hoffnung gemacht (Wolfgang Schroeder) und selbstkritisch diagnostiziert. Es gibt ihn schon in Ansätzen, den innerdeutschen Diskurs über Wege in eine humane Zukunft. Aber er ist noch ein schwaches Pflänzchen und braucht mehr Pflege.

Tanja Busse/Tobias Dürr (Hrsg.)

Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance.

Aufbau-Verlag, Berlin 2003; 328 S., 15,90 Euro


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