Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 25 / 19.06.2006
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Karl-Otto Sattler

Märchenwelt im Fangnetz

Ein Plädoyer gegen die Ausbeutung der Ozeane

Es war einmal: So beginnen Märchen. Richard Ellis wandelt diesen klassischen Einstieg leicht ab: "Es gab einmal eine Zeit", schreibt der US-Meeresforscher - nämlich eine Ära, "da durchkreuzten Grauwale auf Nahrungssuche die kalten Gewässer Islands und Grönlands". Aus der Analyse fossiler Überreste und aus der Interpretation mittelalterlicher Texte rekonstruiert der Autor das Vorkommen dieses Atlantischen Grauwals. Mutmaßlich haben die Jagd und die deshalb gestörten Fortpflanzungsmechanismen diesen Tieren den Garaus gemacht.

Im 18. Jahrhundert schlachteten Robbenjäger auf den Aleuteninseln binnen weniger Jahre sämtliche Seekühe ab. Von Menschenhand als begehrtes Nahrungsmittel geschätzt wurde der ehedem in Nordamerika beheimatete Riesenalk, Urvater des Pinguins, dahingerafft. Verschwunden ist auch ein anderer Seevogel, die Labradorente. All diese Meerestiere sind für immer verloren. Der Verfasser sieht Nagelrochen, Schwarze Seehechte und einige Delphinarten ebenfalls kurz vor der Ausrottung.

Ellis will mit seinem Buch wachrütteln: Drastisch schildert der Wissenschaftler darin, wie als Folge von rücksichtsloser Überfischung und als Konsequenz der wirtschaftlichen Ausbeutung der Ozeane deren phantastische Tier- und Pflanzenwelt zusehends zerstört wird. Ja, auf diese Weise werde sogar die weltweite Nahrungsmittelversorgung der Gattung Mensch gefährdet.

Der Forscher hat eine faszinierende Mischung aus Sach- und Lehrbuch geschrieben, fast schon eine Art Reiseliteratur geschrieben, die den Leser in die spannende Unterwasserwelt entführt. So wird man bei der Lektüre nicht einfach mit alarmierenden Statistiken wie dem weitgehenden Verschwinden des Kabeljaus aus dem Nordatlantik konfrontiert. Vor dem Auge des Lesers schwimmt vielmehr das Meer mit seiner teils untergegangenen, teils bedrohten, teils auch wiederbelebten grandiosen Vielfalt.

Was waren das noch für Zeiten, als vor Neufundland die Fischer einfach einen Korb ins Wasser hinabließen und ihn dann randvoll mit zappelndem Kabeljau wieder hochholten. Seepferdchen, deren Restbestände dereinst vielleicht nur noch in Aquarien zu bestaunen sein werden, tummeln sich auf ihre eigentümliche Art im Wasser. Was für ein Faszinosum sind Korallenriffe. Auf welch paradiesische Zustände deuten die nach - heute so seltenen - großen Meeresschildkröten benannten Inseln und Buchten in der Karibik hin. Als mangels moderner Fangmethoden im Kräftemessen mit ihrer Jägermeute Wale und Schwertfische noch gewisse Chancen hatten, schlugen Letztere manche Schiffe schon mal leck und brachten sie fast zum Sinken.

Doch Ellis unterbricht diese eindrucksvollen Ausflüge immer wieder und holt den Leser auf den Boden der harten Realität zurück - und zu der gehört etwa, dass 90 Prozent der Bestände an Kabeljau, Thunfisch, Schwertfisch, Plattfisch, Hai und Rochen bereits vernichtet sind. Dieses wirkungsvolle literarische Wechselspiel macht den Charakter des Bandes aus. Der Text kommt als aufrüttelnder Appell an Regierungen und Wirtschaft daher, die Rettung der Meere endlich anzupacken: "Das Haus brennt, und dieses Buch ist der Feueralarm. (...) Es wird höchste Zeit, dass die Feuerwehr ausrückt." Nun, dieses Bild mutet im Falle der Ozeane etwas schief an. An einigen Stellen finden sich auch diese und jene Wiederholungen. Aber das darf man dem Autor durchgehen lassen.

Mit einer keineswegs verschwundenen Illusion, die von der Weite des Meeres genährt wird, räumt Ellis gründlich auf: dass nämlich die Ozeane und damit auch die Fischvorräte etwas Unendliches, etwas Unerschöpfliches seien. Der Fisch sei mittlerweile zu einer "umkämpften Ressource" geworden. Tendenziell sinken die Fangquoten, die sich auf jährlich rund 90 Millionen Tonnen belaufen.

Die Schuld für die Verheerungen ortet der Autor in der Industrialisierung des Fischfangs: Riesige Treibnetze, Schleppnetze bis zum Meeresgrund, Ringwadennetze, Langleinen bis zu 50 Meilen oder das Gespannfischen (pair-trawling) zweier Schiffe produzieren dabei auch einen "Beifang" gigantischen Ausmaßes: zu Zehn-, ja Hunderttausenden werden Seevögel, Krabben, Schildkröten, Haie, Lachse, Aale, Robben, Delphine, Wale und andere Fische aller Art "versehentlich" erwischt und dann tot ins Wasser gekippt. Massenhaft stürzen sich beispielsweise Albatrosse auf die Köder der Langleinen, solange diese von den Kuttern hinabgleiten, und werden so ertränkt.

Aber der Forscher belässt es nicht bei Schwarzmalerei. Die Überfischung sei eine Katastrophe, doch noch sei sie beherrschbar. Das Buch thematisiert ein Bündel von Gegenmaßnahmen, die teils auch schon praktiziert werden: Die reichen von der massiven Ausweitung der Fangverbotszonen über die Verhängung restriktiver Fangquoten und die Untersagung zerstörerischer Jagdmethoden bis hin zur Unterschutzstellung mancher Tierarten. Ellis verweist auf einzelne Erfolge: Die Population von Seeottern, Schwertfischen und Seeelefanten konnte sich erholen, ein Fangverbot bei der Karibik-Insel St. Lucia führte zur Regenerierung des dortigen Öko-Systems. Auch künstliche "Fischfarmen", die schon ein Viertel des Weltbedarfs an Meeresgetier decken, lehnt der Autor nicht ab - wobei allerdings etwa Garnelen oder Lachs als Futter Fischmehl benötigen, für dessen Herstellung wiederum Fischfang in großem Stil betrieben werden muss.

Die Lektüre dieses Buchs hinterlässt ein zwiespältiges Gefühl. Ob die phantastische Welt der Ozeane trotz der fortgeschrittenen Umweltsünden tatsächlich noch zu retten ist? Aber diese Welt ist zu fantastisch, als dass man die Hände in den Schoß legen dürfte. Vonnöten ist eine Politik, die sich gegen kurzfristige ökonomische Interessen durchsetzt.

Richard Ellis: Der lebendige Ozean. Nachrichten aus der Wasserwelt. Marebuchverlag, Hamburg 2006; 518 S., 29,90 Euro


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