Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 25 / 19.06.2006
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Daniela Weingärtner

Kein frischer Wind aus Brüssel

Europäischer Gipfel der Staats- und Regierungschefs

Die Phase des Nachdenkens über die Verfassung hätte beim EU-Gipfel vergangene Woche eigentlich zu Ende gehen sollen. Doch die Staats- und Regierungschefs der 25 Mitgliedsstaaten einigten sich darauf, den Prozess um ein weiteres Jahr zu verlängern.

Auf einem Sondergipfel im kommenden März in Berlin anlässlich des 50. Jahrestages der Römischen Verträge sollen die europäischen Werte in einer gemeinsamen Erklärung der dann voraussichtlich 27 Mitgliedsstaaten dargelegt werden. Die Gipfelteilnehmer zeigten sich überzeugt, dass Bulgarien und Rumänien "die festgestellten Defizite beseitigen und somit wie geplant am 1. Januar 2007 beitreten können."

Damit würde die Zahl der Länder, die den Verfassungsvertrag bereits ratifiziert haben, auf 18 ansteigen, denn das finnische Parlament will in den kommenden Wochen zustimmen. Bulgarien und Rumänien haben ihre Zustimmung bereits im Rahmen der Beitrittsverträge erklärt. Diese Entwicklung wird vom Rat ausdrücklich begrüßt. Kein Wort findet sich aber in den Schlussfolgerungen dazu, wie das Dilemma gelöst werden sollen, dass sich in der Union zunehmend zwei Gruppen von Staaten gegenüber stehen: Diejenigen, die der ursprünglichen Version der Verfassung zugestimmt haben und diejenigen - allen voran Frank-reich und die Niederlande - die eine veränderte Fassung brauchen, weil sie ihren Wählern nicht zwei Mal denselben Text zur Abstimmung vorlegen können.

Mehrere Regierungschefs sprachen das Problem am Rande des Gipfels in deutlichen Worten an. "Es ist jetzt die Sache von Frankreich und den Niederlanden, die nötigen Klarstellungen zu geben. Wir warten auf ihre Antworten", sagte der dänische Regierungschef Anders Fogh Rasmussen vor Beginn des Gipfels in Brüssel. Doch diese Antworten blieben aus. Nach Aussagen von Teilnehmern der Tischrunde wurden nicht einmal die Fragen hinter verschlossenen Türen wiederholt.

Andere heikle Themen, die im Vorfeld vollmundig angekündigt worden waren, wurden ebenfalls ausgespart. So verzichtete EU-Parlamentspräsident Josep Borrell darauf, die Kampagne einiger Abgeordneter gegen den Straßburger Parlamentssitz zu erwähnen. Ratspräsident Wolfgang Schüssel hatte ihn schriftlich aufgefordert, die Passage aus seinem Redemanuskript zu streichen: "Beratungen mit den Mitgliedstaaten - vor allem mit Frankreich, dem Gastland des Straßburger Parlamentssitzes - haben deutlich gemacht, dass der Rat dieses Thema nicht debattieren sollte", schrieb Schüssel lakonisch an Borell. Mehrere Abgeordnete hatten im Internet innerhalb eines Monats mehr als 500.000 Unterschriften dafür gesammelt, den zweiten Sitz des Parlaments in Straßburg abzuschaffen und den kostspieligen und zeitraubenden monatlichen Umzugszirkus zu beenden.

Auch beim Thema Erweiterung konnten sich die Gipfelteilnehmer nicht auf konkrete Aussagen verständigen. Bis zum Schluss wurde um eine Formulierung gerungen, die der steigenden Erweiterungsmüdigkeit in der Bevölkerung Rechnung tragen sollte, ohne Hoffnungen auf eine Beitrittsperspektive bei den Balkanländern, der Türkei oder der Ukraine endgültig zunichte zu machen. Schließlich verständigten sich die Teilnehmer darauf, dass der Europäische Rat Ende dieses Jahres unter finnischer Präsidentschaft das Thema erneut auf die Tagesordnung setzen soll.

Es gebe hier Klärungsbedarf, sagte Ratspräsident Schüssel auf der abschließenden Pressekonferenz. Schließlich enthalte schon das deutsche Wort "Aufnahmefähigkeit" eine andere Nuance als das englische "absorption capacity". Es gehe ja wohl nicht darum, das Kandidatenland zu "absorbieren", also zu schlucken. "Die Kommission wird zum ersten Mal eingeladen zu definieren, was Aufnahmefähigkeit konkret bedeutet", erklärte Schüssel. Detaillierte Fragen, welche Folgen eine derartige Definition für die Beitrittschancen von Kroatien oder der Türkei haben könnte, wich Schüssel aus.

Gegen britischen Widerstand einigte sich der Gipfel darauf, seine Beratungen bei Gesetzen, die vom Parlament mit entschieden werden, künftig öffentlich abzuhalten. "Wir probieren es einfach aus, dass wir das Haus Europa durchlüften", sagte Schüssel. In sechs Monaten solle überprüft werden, ob sich das Verfahren bewährt habe. Wer sich davon viel frischen Wind in der europäischen Politik verspricht, könnte allerdings enttäuscht werden.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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