Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 25 / 19.06.2006
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Auch das Undenkbare denken

Interview mit Professor Rolf Emmermann vom GeoForschungsZentrum Potsdam

Mit 45 Millionen Euro aus dem deutschen Forschungsministerium soll im Indischen Ozean bis 2008 das modernste Tsunami-Frühwarnsystem der Welt entstehen. "Das Parlament" sprach mit Professor Rolf Emmermann, dem wissenschaftlichen Vorstand des GeoForschungsZentrums Potsdam (GFZ), das den Aufbau des Warnsystems koordiniert.

Das Parlament    Professor Emmermann, im Prinzip gibt es Tsunami-Frühwarnsysteme seit 30 Jahren. Warum sind sie bisher so wenig zuverlässig?

Rolf Emmermann     Bisher basieren sämtliche Warnsysteme ausschließlich auf der Messung von unter Wasser stattfindenden Erdbeben, so genannten Seebeben. Ab einer bestimmten Stärke - im Pazifik beispielsweise ab 7,5 auf der Richterskala - wird eine Tsunami-Warnung ausgesprochen.

Das Parlament    ...obwohl es meist gar nicht zu einem Tsunami kommt?

Rolf Emmermann     Richtig. Im Pazifik findet in über 80 Prozent der Fälle nach einer Warnung kein Tsunami statt. Das Produzieren von Fehlalarmen kann aber nichtgewollte Reaktionen zur Folge haben: Wir wissen aus Hawaii und Japan, dass viele Menschen an den Hafen oder Strand laufen, um nachzuschauen, was denn wirklich passiert. Diese Reaktion konterkariert natürlich jedes Warnsystem.

Das Parlament    Und was macht Ihr Frühwarnsystem anders?

Rolf Emmermann     Erstens haben wir das Netz zur Messung von Erdbeben verdichtet, also mehr Stationen eingerichtet, die Beben registrieren. In Indonesien beispielsweise haben wir inzwischen fünf statt einer Messstation; in zwei Jahren werden es 25 sein. Zweitens haben wir die Messsysteme verbessert und die Seismografen-Stationen auch mit GPS-Empfängern ausgestattet. Das ermöglicht uns, die Richtung der tektonischen Verschiebungen infolge eines Erdbebens festzustellen - mit dem Beben verschiebt sich auch die Messstation. Das lässt Rückschlüsse auf den Erdbebenmechanismus zu und darauf, wie die Prozesse unter der Erde abgelaufen sind. Auf diese Weise lässt sich zuverlässiger aussagen, ob wohl eine Tsunami-Welle ausgelöst wurde. Längst nicht jedes starke Erdbeben hat auch große Wasserbewegungen zur Folge.

Das Parlament    Zusätzlich hat das deutsche Forschungsschiff "MS Sonne" kurz vor dem Jahrestag des Tsunami-Ereignisses vor Indonesien zwei Bojen zu Wasser gelassen. Was tun die?

Rolf Emmermann Sie stellen das zweite Glied in der Kette unseres Warnsystems dar. Alle Erdbebenmessungen können immer nur feststellen, wo das Erdbeben stattgefunden hat, wie stark es war und ob eine Tsunami-Gefährdung besteht. Ob ein Tsunami tatsächlich entstanden ist, messen sie nicht. Die Bojen, deren Anzahl auf zehn aufgestockt werden wird, liefern Daten über die Bewegung des Wassers an der Erdoberfläche und sind zusätzlich mit Drucksensoren am Meeresboden verbunden.

In der Ozeanografie lassen sich zwei Typen von Wellen unterscheiden: Oberflächenwellen, die durch Wind und Strömungen verursacht werden, und gravitative Wellen, also die Tieden und eben auch Tsunamis. Der Unterschied ist, dass bei Oberflächenwellen die Energie eben nur an der Meeresoberfläche transportiert wird. Bei einer Tsunami-Welle wird schon bei der Entstehung - vereinfacht gesehen - ein Wasserblock "in die Höhe" gehoben. Diese Wassersäule als Ganzes hat damit eine höhere potenzielle Energie als das umgebende Wasser. Angetrieben durch die Schwerkraft wird die potenzielle Energie umgesetzt in kinetische Energie, die als Welle durch den gesamten Ozean läuft. Deswegen haben wir in 6.000 Meter Tiefe Drucksensoren installiert, die die Bewegung des Wassers mit Hilfe akustischer Signale an die Bojen senden. Gleichzeitig überprüft die Boje mit Hilfe des GPS ihren Standort, also ob sich ihre Position nach oben oder unten verschoben hat. All diese Daten werden über einen Satelliten an die Datenzentren gesandt.

Das Parlament    Steht das Datenzentrum in Potsdam? Bei dem Tsunami 2004 hat sich gezeigt, dass es nicht viel nutzt, wenn aus der Ferne eine Warnung erfolgt.

Rolf Emmermann     Deswegen richten wir neben dem in Potsdam ein nationales Warnzentrum in Jakarta ein. Die Indonesier planen darüber hinaus den weiteren Aufbau von Regionalzentren, die eine vergleichbare Funktionalität wie das Zentrum in Jakarta haben.

Das Parlament    Das setzt voraus, dass dort hoch ausgebildete Leute sitzen, die die Daten interpretieren können.

Rolf Emmermann     Das ist so. Das GFZ hat eine eigene Arbeitsgruppe gebildet, die sich ausschließlich mit dem so genannten "Capacity Building" beschäftigt, also der Ausbildung von Experten vor Ort. Regelmäßig kommen Indonesier zur Schulung nach Potsdam. Außerdem arbeiten wir eng mit den zuständigen Behörden in Indonesien zusammen; auch dort ist einige Expertise vorhanden. Dass der Mensch nicht versagt, ist in der Tat das alles Entscheidende: Wenn die Warnkette an Land nicht steht, nützt Ihnen alle Technologie unter Wasser nichts.

Das Parlament    Wie schnell bekommt der Mensch im Rechenzentrum die Daten?

Rolf Emmermann Im Prinzip in Echtzeit. Die Informationen über Ort, Stärke und Mechanismus eines Erdbebens hat er in weniger als drei Minuten. Die Daten der Bojen stehen ihm ebenfalls in Echtzeit zur Verfügung. In etwa acht Minuten wird es möglich sein, zuverlässig zu wissen, ob ein Tsunami entstanden ist.

Das Parlament    Und bis tatsächlich von den örtlichen Behörden eine Tsunami-Warnung an die Bevölkerung herausgegeben wird?

Rolf Emmermann Wenn alle rechtzeitig reagieren: Zehn, höchstens 15 Minuten.

Das Parlament    In Banda Aceh, der Stadt, die am stärksten von dem Tsunami 2004 getroffen wurde, hätte das nicht gereicht. Nach 13 Minuten fegte das Wasser über ein Drittel der Stadt.

Rolf Emmermann     Wir haben uns in der Tat genau daran orientiert, wann das Wasser beim letzten Tsunami erstmals auf das Land traf; das war auf einer Insel vor Banda Aceh nach zwölf Minuten. Unser Ziel muss sein, darunter zu bleiben. Aber: In zehn Minuten eine zuverlässige Tsunami-Warnung erstellen zu können, ist im Vergleich zu allem Bisherigen sehr, sehr schnell.

Das Parlament    Was passiert danach? Wer stellt sicher, dass die Bevölkerung, auch in Gegenden ohne Handynetz und Internet, glaubwürdig und effizient gewarnt wird?

Rolf Emmermann Das liegt nicht in unserer Verantwortung, sondern wird von anderen Organisationen wie zum Beispiel den Vereinten Nationen betrieben. Sämtliche Anrainerländer des Indischen Ozeans entwickeln zurzeit lokale Systeme und schulen Menschen, um die Nachricht dorthin zu bringen, wohin sie gehört. Auch hier gilt wieder: Dass das funktioniert ist das A und O.

Das Parlament    Das Frühwarnsystem wird genau dort installiert, wo sich der letzte Tsunami ereignet hat. Wieso sind Sie so sicher, dass auch der nächste dort sein wird?

Rolf Emmermann     Sicher kann man natürlich nie sein. Aber wir kennen die Zonen, in denen überhaupt starke Seebeben zu erwarten sind. Das ist beispielsweise der so genannte Sundabogen, ein Bereich vor Sumatra und Java, wo heute der Boden des Indischen Ozeans unter Indonesien abtaucht. Dieser Prozess ist mit der Akkumulation großer tektonischer Spannungen verbunden, die sich immer wieder in Erdbeben entladen können. Nach unseren Messungen haben infolge des großen Erdbebens am 26. Dezember 2004 die Spannungen im Norden abgenommen, während sie weiter nach Süden zugenommen haben. Es spricht einiges dafür, dass dort mit einem weiteren Erdbeben zu rechnen ist, welches auch die Millionenstädte Jakarta und Singapur in Gefahr bringen könnte. Eine weitere Gefahrenregion liegt im Arabischen Meer vor dem Eingang zum Persischen Golf südlich des Iran.

Das Parlament    Wer wird das Frühwarnsystem finanzieren? Die Bundesregierung will sich 2010 zurückziehen, und die indonesische Regierung kann die laufenden Kosten von etwa 250.000 Euro im Monat auch nicht alleine aufbringen.

Rolf Emmermann     Immerhin ist höchst erfreulich, dass sich die indonesische Regierung schon heute mit nicht unerheblichen Mitteln beteiligt! Darüber hinaus arbeiten wir zurzeit an weiteren Kooperationen - schließlich profitieren in der Tat sämtliche Küstenanrainerstaaten zwischen Afrika und Australien von dem System. Die Gespräche verlaufen vielversprechend. Sowohl Südafrika als auch Australien haben eine Kooperation zugesichert; mit Sri Lanka und Thailand wird noch verhandelt. Die Diskussionen um ein mögliches Finanzierungsmodell laufen gerade erst an.

Das Parlament    Binnen fünf Jahren wird nun ein effizientes Warnsystem errichtet, das am 26. Dezember 2004 hunderttausende Menschen hätte retten können. Ist das nicht ein bisschen spät?

Rolf Emmermann     Gegenfrage: Erinnern Sie sich an das für deutsche Verhältnisse verheerende Elbe-Hochwasser 2002? Die Finanzierung eines Hochwasserschutzprogramms durch den Bund ist drei Jahre nach diesem Extremereignis angelaufen. Es ist meist so, dass Gelder erst dann zur Verfügung gestellt werden, wenn sich eine Katastrophe ereignet hat. Und es ist deshalb auch klar, dass man einige Zeit benötigt, bis ein geeignetes Frühwarnsystem etabliert ist.

Das Parlament    Haben Sie denn auch rechtzeitig vor dem Tsunami gewarnt?

Rolf Emmermann     Da muss sich ehrlicherweise auch die eigene Zunft, also die Wissenschaft und Forschung, Kritik gefallen lassen. Wir hatten das Know-how über Seismologie und Geodäsie; wir wussten, dass Tsunamis immer wieder auftreten, auch dass es gelegentlich verheerende Tsunamis gibt. Dennoch hat niemand ein Ereignis wie dieses je erlebt oder sich richtig vorstellen können. Allerdings ist die Aufgabe der Wissenschaft, gerade bei der Beschäftigung mit Naturkatastrophen auch das Undenkbare zu denken und auf sehr seltene Extremereignisse vorbereitet zu sein.

Das Interview führte Jeannette Goddar

Informationen im Internet: www.gfz-potsdam.de


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