Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 25 / 19.06.2006
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Anke Richter

"Mein Strand war mal vier Meter breit"

In der Südsee droht vielen Atollen ein Ertrinken auf Raten: Funafuti ist eines von ihnen

Wie viele Inseln der Pazifik hat, weiß niemand genau. Vielleicht sind es 20.000, vielleicht 30.000. Die meisten sind versunkene Vulkane, über deren Kraterrändern in Millionen von Jahren Korallenriffe und Palmenhaine entstanden. Eines dieser Atolle ist Funafuti, ein 70 Kilometer langer Ring aus 30 Erhebungen im Ozean. Aus der Luft betrachtet sehen sie wie grüne Smaragde an einer Halskette aus, die auf blauem Samt ruht. Am Boden dagegen sieht die einzig bewohnte der Inseln, die Haupstadt des Südseereiches Tuvalu, ziemlich feucht aus. Darum hat Manoa Tehulu mal wieder nasse Füße.

Der alte Mann enthülst frische Kokosnüsse - die allmorgendliche Standardbeschäftigung in Polynesien. Die Frucht lässt er mit Wucht auf einen spitzen Metallstab niedersausen, der die äußeren Fasern aufreißt. Das weiße Fleisch der Nüsse wird an die Schweine verfüttert oder zu Kokossahne gepresst, die Schalen feuern den Erdofen an. Am Abend soll es Spanferkel geben. Manoa Tehulu steckt während der Arbeit bis zu den Knöcheln in trübem Brack-wasser. Seit Stunden sickert es aus dem mit toten Korallenstücken und Plastikmüll übersäten Boden rund um seine Hütte. Auch das Nachbarhaus ist von einer Pfütze umgeben. In ein paar Stunden wird sie verschwinden, aber am nächsten Tag wiederkehren.

Die Luft schmeckt salzig. In Funafuti ist man nirgendwo mehr als 150 Meter vom Ufer entfernt. Die Südsee ist allgegenwärtig. Sie ist Garten, Badezimmer, Schwimmbad und Schlachterei zugleich. Manoa Tehulu zeigt auf das Ufer, wo sein Hinterhof endet. "Mein Strand war mal vier Meter breit. Jetzt kommt das Meer fast bis zum Haus. Da helfen auch die Steinwälle nicht."

Wenn die jährlichen Springfluten Tuvalu heimsuchen, bringen sie jedes Mal etwas mehr Wasser an Land. Einmal war sogar die Landebahn des einzigen Flughafens des Landes überspült. Zweimal pro Woche landet eine Kleinmaschine für 22 Passagiere aus Fidschi. Dazwischen wird der Asphaltstreifen für Fußball- und Rugbyspiele benutzt. Schweine und Kinderfahrräder kreuzen die Landebahn. In besonders schwülen Nächten rollen die Bewohner dort ihre Strohmatten zum Schlafen aus und genießen die leichte Brise.

Hektik und Panik sind in Tuvalu Fremdworte. Junge Männer klettern auf eine Kokospalme, aus deren Palmsaft sie ein leicht halluzinogenes, alkoholisches Gebräu namens "Toddy" gewinnen. Klatschend fällt eine überreife Brotfrucht auf die Straße und verströmt süßliches Aroma. Von einer mit Algen bedeckten Bootsrampe rutschen Kinder lachend ins Wasser. Ein Mann hievt einen frisch geangelten Thunfisch von der Größe eines Hundes aus einem Kanu. In der Lagune sitzen Frauen in langen Shorts und T-Shirts im warmen Wasser des Nachmittags, plaudern und knabbern an frisch gegarten Krabben. Bikinis trägt hier niemand: Die Tuvaluer sind zutiefst christlich und damit besonders sittenstreng.

Das religiöse Korsett tut dem fröhlichen und gelassenen Treiben in dem mit 9.500 Seelen viertkleinsten Land der Welt keinen Abbruch. Der gemeinsame Nenner ist das Lachen. Selbst einen Unfall mit einem der unzähligen Motorräder, die durch die überschaubare Inselhauptstadt brettern, finden die Passanten erst mal zum Brüllen komisch. Ihre Lieblingsbeschäftigung, neben dem Fischen, ist traditioneller Tanz. Er wird nicht nur für die wenigen Touristen aufgeführt, die sich nach Tuvalu verirren, sondern ist Lebenselixier für alle. Bei den stundenlangen Veranstaltungen schlagen Männer den Rhythmus, Frauen wiegen sich in den Hüften und Armen, und die Kinder schauen begeistert zu. "Jede Ausrede für einen Tanz", heißt eines der Sprichwörter Tuvalus.

Was man in dieser pazifisch-paradiesischen Idylle weder vermutet noch spürt, ist Furcht und Bedrohung. Doch Angst ist seit Jahren das Leitmotiv, mit dem sich Tuvalu auf der Weltbühne präsentiert. Der damalige Premierminister des Landes behauptete anlässlich der 25-Jahr-Feier der Unabhängigkeit Tuvalus vor drei Jahren in einer Rede vor der UN-Vollversammlung, dass sein Volk "in ständiger Furcht vor den Beeinträchtigungen des Klimawandels" lebe. Es sei "zutiefst bestürzt, dass die Industrienationen unsere Sorge nicht teilen". Der Staatsmann wurde noch deutlicher. Die Bedrohung durch das Ansteigen des Meeresspiegels sei für seine Mitbürger nichts anders als "eine langsame und heimtückische Form von Terrorismus".

Polemik ist die einzige Waffe, die den Pazifikbewohnern bleibt. Sie sind die unmittelbaren Opfer einer schleichenden ökologischen Katastrophe, die ihnen Amerika, Europa und der Rest der westlichen Welt eingebrockt hat. "Die Länder, die am wenigsten für das Problem verantwortlich sind", so Klima-Expertin Angie Heffernan von Greenpeace, "tragen die Hauptlast." Der Treibhauseffekt wird durch die Unmengen an Kohlendioxid hervorgerufen, die durch Energieverschwendung, Autoabgase und Industrie in die Erdatmosphäre entlassen werden. Die erwärmt sich und bringt die Polkappen langsam zum Schmelzen. Was Jahrmillionen lang Eis gewesen ist, entlädt sich nach und nach ins Meer. Der Meeresspiegel steigt zusätzlich, da das erwärmte Wasser mehr Raum einnimmt.

Ab den 80er-Jahren drangen die Erkenntnisse der Wissenschaft zu den pazifischen Staaten durch. Sie brauchten dringend Verbündete. Greenpeace stellte sich an die Spitze derer, die eine Reduzierung von Treibhausgasen forderten - und verwies dabei auf die Südseeinseln als das kommende Atlantis, für immer versunken im Meer. Tuvalu wurde zur Gallionsfigur. Im Jahr 2001, in dem weltweit 23.464 Tonnen CO2 ausgestoßen wurden, drohte der damalige Premierminister Tuvalus damit, die Vereinigten Staaten und Australien vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu verklagen, weil sie das Kioto-Protokoll nicht ratifiziert hatten. Doch als Koloa Talake ein Jahr später aus dem Amt gewählt wurde, starb damit auch die Klage. Premiers wechseln in Tuvalu häufig.

Ebenso bedroht wie Tuvalu sind all die anderen flachen Atolle, deren höchste Erhebungen keine fünf Meter betragen: die nördlichen Cook-Inseln, Kiribati, Tokelau, die Vereinigten Staaten Mikronesiens und die Marshall Inseln. Die 22 Länder und Regionen des Pazifiks reichen über 17 Millionen Quadratkilometer und beherbergen einige der abwechslungsreichsten Ökosysteme der Welt. Seit Jahrtausenden haben dort einzigartige Kulturen in Harmonie unter widrigen Umständen überlebt. Für ihr weiteres Überleben fühlt sich auch die Umweltorganisation SPREP (South Pacific Regional Environment Program) in Samoa zuständig. "Als Zehnjähriger habe ich mit Ehrfurcht aufs Meer geschaut - auf die schier endlose Fülle von Fischen, die ich mit meinen bloßen Händen fangen konnte, um meine Familie zu ernähren", erinnert sich SPREP-Direktor Tomari'i Tutangata wehmütig. "Wenn ich jetzt aufs Meer schaue, dann frage ich mich, wann es unsere Küsten überwältigen wird."

Die Angaben darüber, um wie viele Milli- oder Zentimeter pro Jahr das Meer an Höhe gewinne, sind widersprüchlich. Laut IPCC, dem United Nations Intergovernmental Panel on Climate Change, stieg der Pazifik im gesamten 20. Jahrhundert zwischen zehn und 20 Zentimeter an. Für dieses Jahrhundert sagt das als seriös anerkannte Gremium einen Anstieg von neun bis 88 Zentimetern voraus - im Schnitt also ein halber Meter. Das würde reichen, um unzähligen Insulanern die Lebensgrundlage zu entziehen.

Das South Pacific Sea Level and Climate Monitoring Project vermeldete im Februar, dass das Meer rund um das Königreich Tonga um 8,4 Millimeter pro Jahr ansteige - eine Rekordzahl, die jedoch mit Vorsicht zu genießen ist, da keine Langzeit-Daten vorliegen. In Kiribati, das sich von den Gilbert-Inseln im Westen über tausende von Kilometern zu den Line Inseln im Osten erstreckt, verschwanden Ende der 90er-Jahre zwei unbewohnte Eilande, Tebua Tarawa und Abanuea, unter der Wasseroberfläche. Andere werden folgen - Ertrinken auf Raten.

"Land unter" hieß es letztes Jahr auf den Carteret Inseln, einer hufeisenförmigen Inselgruppe vor Papua Neu-Guinea. Seit 20 Jahren kämpfen die Atollbewohner dort einen verzweifelten Kampf gegen die Fluten, indem sie Meereswälle bauen und Mangroven in Ufernähe pflanzen. Doch jedes Jahr zerstören die Wellen erneut Gemüsegärten und Trinkwasserdepots. Häuser werden ins Meer gespült. Die 2.000 Insulaner gehören zu den ersten Flüchtlingen der Klimakatastrophe: Die Familien werden nach und nach auf der Nachbarinsel Bougainville angesiedelt, vier Stunden Bootsfahrt entfernt. Vorausgesetzt, in der Unruheregion sind die nötigen Gelder für dieses Projekt vorhanden.

Um Evakuierung im Falle des Falles machen sich alle bedrohten Pazifik-Staaten seit Jahren Gedanken. Relativ ruhig sind jedoch die Stimmen aus Tokelau, der einzigen Kolonie Neuseelands, bestehend aus drei Atollen mit je 500 Menschen. Als neuseeländische Staatsbürger müssen die Tokelauer nirgendwo um Aufenthaltsgenehmigung betteln. "Wir unterstützen jede sinnvolle Maßnahme, aber springen nicht automatisch auf jeden Zug auf", sagt Tokelaus Regierungsdirektor Falani Aukuso. Hinter dem Engagement Tuvalus vermutet er vor allem den Wunsch nach besseren Visa-Bedingungen.

Tuvalus Regierung übt seit langem vergeblich Druck auf Australien aus, um ihre Bürger schon im Vorfeld einer Katastrophe dort ansiedeln zu können. Doch die Australier, in Immigrationsfragen eisenhart, weigern sich, Umweltflüchtlingen Öko-Asyl zu gewähren. Als Begründung zogen sie unter anderem eine Studie der National Tidal Facility (NTF) an der Flinders Universität in Adelaide heran. Deren Angaben zufolge habe der Anstieg rund um Tuvalu seit 1993 weniger als einen Millimeter betragen. Die letzten Messungen der Universität von Hawaii in Funafuti dagegen ergeben einen Anstieg von ein bis zwei Millimetern pro Jahr, was dem Durchschnitt der IPCC-Prognose entspricht. Die viel zitierte Prophezeiung eines Regierungsbeamten Tuvalus, dass sein Volk in den nächsten 50 Jahren umsiedeln müsse, scheint angesichts der neueren Daten übertrieben. Sicher ist jedoch, dass ein unaufhaltsamer Zerstörungsprozess im Gange ist, solange die Erde sich nicht von den Taten ihrer Hauptumweltsünder erholt hat.

Hilia Vavae ist die Direktorin des Wetterdienstes von Tuvalu. Fotos in ihrem Büro zeigen sie bis zu den Waden in Wasser stehend, als die Überflutung der Haupstadt den Höhepunkt erreichte. 50 Hektar des 26 Quadratkilometer kleinen Landes verschwanden während der schweren Stürme vor neun Jahren im Meer. Sind an Manoa Tehulus nassen Füßen während des morgendlichen Kokosnussknackens allein westlicher Großstadt-Smog, fossile Verbrennung und FCKW-lastige Kühlschränke schuld? Sie schüttelt den Kopf. Die jährlichen Überschwemmung auf Funafuti sind unter anderem handgemacht: Sie stammen in erster Linie von Löchern, die einst gebuddelt wurden, um Erde für den Bau des Militärflughafens herbeizuschaffen. "Das hat die Hydrologie des Bodens aus dem Gleichgewicht gebracht", sagt Hilia Vavae.

Dennoch sieht die Meteorologin, wie die Folgen der Klimakatastrophe ihre Heimat bedrohen. Heftigere und häufigere Wirbelstürme wechseln sich mit verschärften Trockenperioden ab. Das gleiche Extrem gelte für die Gezeiten, was die relativ unspektakulären Daten von NTF aus Adelaide erkläre: "Die Flut ist höher und die Ebbe niedriger geworden - der Durchschnitt bleibt der gleiche. Aber es braucht nur eine hohe Flut, um die wenige Erde fortzuspülen oder Pflanzen abzutöten, die kleinere Inseln verbinden." Früher gab es nur im Februar Sturmfluten auf Tuvalu. Jetzt dauert der bedrohliche Zustand von November bis März.

Hilia Vavaes Ansatz ist pragmatisch. "Man muss sich auf das verlassen, was man sieht: die Erosion der Strände. Die Plantagen sind versalzt und die Bananenpflanzen gehen ein. An vielen Stellen stirbt das Riff, weil nicht mehr genug Sonne in die Tiefe dringt. Das bedeutet weniger Fische. Und dann all die Stürme in letzter Zeit..." Sieben Zyklone fegten in den 90er-Jahren über Tuvalu. Davor gab es jedes Jahrzehnt höchstens einen schweren Wirbelsturm. Keli, der dritte Zyklon im Jahr 1997, machte schließlich der kleinen, unbewohnten Ausflugsinsel Tepuka Savilivili den Garaus. Er riss die gesamte Vegetation des Eilandes ab, auf das die Städter sich gerne auf ein Picknick unter Palmen zurückgezogen hatten. Aus dem postkartenreifen Tropenidyll ist eine öde Anhäufung toter Korallen geworden, dazwischen gammeln alte Styropor-Bojen und Plastikflaschen. Tepuka Savilivili ist der Ground Zero der Südsee - auch wenn an seinem Untergang streng genommen ein Unwetter und nicht der steigende Meeresspiegel schuld war.

Während ihre Politiker ein düsteres Szenario von Menschen entwerfen, die sich verzweifelt an Kokospalmen klammern, unter denen die Erde in den Fluten versinkt, lassen die Bewohner Tuvalus keine Endzeitstimmung zu. Viele von ihnen weigern sich schlichtweg, an eine ökologische Bedrohung zu glauben. Ihre Überzeugung kommt nicht aus wissenschaftlichen Quellen, sondern wird aus der Bibel gespeist - in den meisten Hütten ist sie das einzige Buch. Als Noah seine Arche füllte, versprach Gott ihm, keine weitere Flut auf die Erde zu senden. In einem der christlichsten Länder der Welt, dessen nationales Motto "Tuvalu dem Allmächtigen" heißt, hat diese alttestamentarische Botschaft mehr Gewicht als die Prophezeiung von Greenpeace. Pitoi Etuati ist Pastor in Tuvalu. Seine Kirche ist eine einfache, weiß getünchte Halle, die für die rund 1.000 Gläubigen seiner Gemeinde mit Pandanus-Matten ausgelegt ist. Der Protestant hat für sich einen Kompromiss zwischen Tradition und Tatsachen gefunden: "Vielleicht versucht Gott gerade, uns darüber zu informieren, dass unsere Inseln verschwinden - wenn nicht in diesem Leben, dann für die kommende Generation."

Was seit Jahrhunderten das Leben auf Tuvalu ausmacht - Fischen, Tanzen, Beten, Singen - ist nicht nur durch Stürme und See bedroht. Viel unmittelbarer als die Natur greift die westliche Zivilisation in den fragilen Pazifikstaaten um sich. In den meisten Häusern Tuvalus flimmern gewalttätige Fernost-Filme auf DVD vom Bildschirm, so lange der Generator Strom spendet. Importiertes Dosenfleisch hat die traditionelle Kost aus frischen Meerestieren ersetzt. Viele Tuvaluer leiden an Gicht und Diabetes - Zivilisationskrankheiten durch zu hohen Zuckerkonsum. Und an den weißen Sandstränden des pazifischen Paradieses türmt sich der Müll in Form von Cola-, Bier- und Limonadendosen. Nicht nur Zyniker behaupten daher, dass ein Land wie Tuvalu nicht versinken könne, so lange es auf so viel Unrat gebettet sei. "Unsere Identität als Tuvaluer wird nicht erst dann verloren gehen, wenn wir wegen des Treibhauseffekts in andere Länder umsiedeln", mutmaßt Pastor Etuati. "Sie beginnt schon jetzt durch den Einfluss des Modernen zu schwinden."

 

Anke Richter lebt in Christchurch (Neuseeland) und berichtet als freie Journalistin aus Neuseeland, Polynesien und der Antarktis.


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