Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 25 / 19.06.2006
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Alexandra Rigos

Das Venedig der Neuzeit

Das Meer und die Küsten werden zur Baustelle

Ein beliebtes Kinderbuch der 70er-Jahre hieß "Erklär mir das Meer". Es enthielt nicht nur wundersame Details über Wale, Riesenkraken und die Geschichte der christlichen Seefahrt, sondern wagte auch einen Blick in die Zukunft: Bald schon würden Menschen in Glaskuppeln unter Wasser leben, sich ganze Städte am Meeresgrund ausdehen. Die zugehörigen Illustrationen zeigten Damen in kurzen Röcken, die mit Aussicht auf vorbeiziehende Fischschwärme Cocktails schlürften, und Wohnzimmerinterieurs à la "Odysse im Weltraum".

Wie viele Ideen der Futurologen - Kolonien auf dem Mond, Autos mit Atomantrieb, Roboter für die Hausarbeit - blieb auch das Eigenheim unter Wasser Utopie. Nur von einem japanischen Exzentriker ist überliefert, dass er sich eine Villa unter dem Meeresspiegel bauen ließ und dort rauschende Partys feierte. Allerdings mussten die Gäs-te Taucheranzug und Atemmaske anlegen, um der Einladung zu folgen - wohl ein Grund, warum dieser Lebensstil keine Nachahmer fand.

Vielmehr hat sich die Menschheit das Meer auf ganz andere Weise zu Eigen gemacht - effizienter, brachialer und bar jeglicher Romantik. Statt einzutauchen in das fremde Element, um darin zu leben, verdrängte man es, schüttete es zu, verwandelte das Meer in Land, um obenauf zu wohnen, als wäre dort nie etwas anderes gewesen. Über weite Strecken sind die Küsten der Erde, vor allem in den dicht besiedelten Industrieländern, zu Baustellen geworden; naturbelassene Klippen, Strände und Marchen sind heute so selten zu finden wie unverbaute Flussufer.

Moderne Technik lässt immer kühnere, immer wahnwitzigere Ideen Wirklichkeit werden: So entsteht derzeit in der Nähe von Shanghai nach Plänen des Hamburger Architektenbüros "von Gerkan, Marg und Partner" die Stadt Luchao Harbour City - überwiegend auf aufgeschüttetem Land. Die 65 Quadratkilometer große, ringförmige Metropole, in deren Mitte ein See prangt, soll einmal 800.000 Menschen beherbergen. Viele der Einwohner werden im größten Tiefsee-Containerhafen der Welt Arbeit finden, zu dem gerade eine Hand voll Inseln weit draußen im Gelben Meer ausgebaut werden. Um die Terminals von Yangshan, dessen Konkurrenz Hongkong schon heute fürchtet, mit dem Festland zu verbinden, arbeiten Chinas unerschrockene Ingenieure seit 2004 an der 31 Kilometer langen, sechsspurigen Donghai-Brücke. Stürme und Unwetter legen die Bauarbeiten allerdings immer wieder lahm.

Bedrohte Ballungszentren

Allen Prognosen der Klimaforscher zum Trotz, die vor dem steigenden Meeresspiegel warnen, zieht es die Menschheit wie nie zuvor an die Küsten - zu den Häfen und Ballungszentren, die Arbeit versprechen, in die Badeorte, die Erholung bieten. Schätzungen zufolge lebt die Hälfte der Menschheit entlang der Küs-ten - und damit gefährlich. Im Dezember 2004 hat die Tsunami-Katastrophe in Erinnerung gerufen, wie verletzlich menschliche Siedlungen in Reichweite der Fluten sind.

Davon ungerührt haben einige asiatische Großstädte ihre mit Wolkenkratzern beladenen Citys weit ins Meer hinausgeschoben. So wuchs die Fläche von Singapur in den vergangenen 40 Jahren um ein Fünftel und begrub fast alle Strände und Mangroven der Insel unter Asphalt. Zwei weitere Projekte, die den boomenden Stadtstaat noch einaml um 49 Quadratkilometer vergrößern soll, mussten indes gestoppt werden - das benachbarte Indonesien fühlte sich bedroht und weigerte sich, den expansiven Singapur-Chinesen weiter Sand zu verkaufen.

Jahrhundertelang war Landgewinnung ein Vorhaben, das Generationen beschäftigen konnte. Hartnä-ckig bemühten sich die Küstenbewohner, den natürlichen Vorgang der Landentstehung ein wenig zu beschleunigen, rangen mit Buhnen und Zäunchen jeder Flut mehr Sediment ab, als sie zurückzulassen bereit war, und deichten die gewonnene Marsch schließlich ein. Heute holen spezielle Saugbaggerschiffe, so genannte Hopper-Bagger, weit draußen auf See Sand vom Meeresboden und spucken ihn schichtweise am gewünschten Ort wieder aus. Bulldozer planieren das Neuland, und es dauert nur ein oder zwei Jahre, bis sich der Grund so weit gesetzt hat, dass Baufahrzeuge anrollen können. Auf diese Weise wachsen derzeit vor der Küste von Dubai drei palmenförmige Ferieninseln aus dem Meer - der letzte Schrei auf dem Markt der Luxusimmobilien.

Aber auch die nüchternen Niederländer setzen auf die "Pfannkuchenmethode", um in ihrer eng gewordenen Randstad, dem ringförmigen Ballungsraum zwischen Rheinmündung und Amsterdam, Platz zu schaffen. So ist seit 1999 östlich von Amsterdam das neue Stadtviertel Ijburg in Bau: ein Archipel aus sieben künstlichen Inseln, insgesamt 420 Hektar groß, mit 18.000 Wohnungen für 45.000 Menschen, mit Schulen, Einkaufszentren und einem Krankenhaus. Drei der Inseln sind bereits fertig. 2009 soll das letzte Eiland aufgehäuft werden, 2013 die letzte Wohnung errichtet sein. Der urholländische Traum vom Leben am Wasser wird dann auf einem Fundament von 25 Millionen Kubikmetern aufgeschüttetem Sand ruhen.

Dabei haben die Holländer wie kaum ein anderes Volk im Lauf der Jahrhunderte gelernt, das Meer zu fürchten. Noch 1953 ertranken bei einer Sturmflut 1.835 Menschen. Die Bewohner des neuen Stadtviertels Ijburg können vergleichsweise ruhig schlafen, denn vor ihrer Tür schwappt nicht die offene See, sondern der Ij. Er mündet in das Ijsselmeer, das durch den Bau des Abschlussdeichs 1932 von der Nordsee abgeschnitten wurde und heute ein Binnengewässer ist. Doch mittlerweile diskutieren die Holländer ein weit ehrgeizigeres Vorhaben: An der offenen Nordsee, zwischen Hoek van Holland und dem Seebad Scheveningen will man einen bis zu 4,5 Kilometer langen Landstreifen aufschütten, der Platz für bis zu 50.000 Wohungen bieten soll.

Ein Blick nach Japan zeigt, welches Risiko solche Pläne bergen: 1994 feierte die Stadt Osaka die Einweihung ihres neuen Fluhafens, des Kansai-Airportes, der auf einer fünf Quadratkilometer großen künstlichen Insel liegt. Zwölf Milliarden Euro kostete der Bau des Stararchitekten Renzo Piano; an Land wurde eine ganze Hügelkette abgetragen, um im 15 Meter tiefen Meer 180 Millionen Kubikmeter Erde und Geröll anzuhäufen - das Volumen von 70 Cheopspyramiden.

Die Ingenieure hatten einkalkuliert, dass ihr Werk im Laufe der Jahrzehnte einige Meter absacken würde, verschätzten sich aber maßlos: Keine zehn Jahre nach der Eröffnung war das Areal stellenweise bereits um zwölf Meter abgesunken. Nun schlagen Landebahnen Wellen, in Wänden klaffen Risse, in Kellern steht Wasser - und Reparaturen verschlangen 2,6 Milliarden Euro.

Deiche müssen also her, um die Menschen zu schützen, die auf Neuland siedeln. Das futuristische Luchao etwa wird von acht Meter hohen Schutzwällen eingemauert sein, so dass die Bewohner der "Harbour City" das Meer nur zu Gesicht bekommen, wenn sie auf einen der Dämme klettern.

Wo kein Platz für hohe - und damit breite - Deiche ist, verbarrikadieren sich Großstädte hinter Sperrwerken, die bei Sturmflut ganze Flussmündungen abriegeln. Mammutprojekte wie die Thames Barrier bei London oder der Oosterschelde-Damm sind ohne Zweifel Meisterwerke der Technik, doch kosten sie Unsummen und greifen massiv in die Ökologie der Gewässer ein. Heftig umstritten ist auch das MOSE-Projekt, das ab 2011 Venedig vor dem immer häufiger auftretenden "acqua alta" schützen soll - mit Hilfe von 79 Schleusentoren an den Öffnungen der Lagune, die sich durch Druckluft aufrichten lassen.

Immerhin hat Venedig, einst auf ein paar Sandbänke ins Wasser gebaut wie heute Ijburg oder Singapur, fast 1.500 Jahre überstanden. Ob die heutigen Bauten auf dem Meer auch nur ein Zehntel dieser Zeitspanne überdauern werden, ist ungewiss. Schließlich prophezeit der Klimarat IPCC, der Meeresspiegel werde bis 2010 zwischen neun und 88 Zentimeter steigen.

Neue Hochwasserschutz-Strategien

Dass der Kampf gegen die Fluten auf Dauer auch mit massivem Technikeinsatz nicht zu gewinnen ist, haben die Niederländer - und auch die Briten - im Prinzip längst erkannt. Neue Hochwasserschutz-Strategien fordern, den Fluten mehr Auslauf zu bieten und Bewohner aus Überschwemmungsgebieten herauszulocken. Geordneter Rückzug statt immer neuer Landnahme, hieße also das Gebot der Stunde; statt dem Meer mit Stahl und Beton weiter auf den Leib zu rücken, gälte es, sich in respektvollem Abstand einzurichten und den Fluten nur punktuell mit allen Mitteln der Ingenieurskunst die Stirn zu bieten.

Nicht nur wegen des steigenden Meeresspiegels sehen Umweltschützer die Verbauung der Ozeane kritisch: Konstruktionen, die im Wasser stehen, seien es aufgeschüttete Inseln, Dämme oder Brückenpfeiler, beeinflussen die Strömungsverhältnisse. Häufig ist verstärkte Erosion die Folge. So reißt das Meer die natürlichen Strände von Dubai fort, seit die palmenförmigen Inseln, über Dämme mit dem Festland verbunden, die Hydrodynamik an der Küste des Emirats verändert haben.

Wenn das Gesamtprojekt in etwa vier Jahren fertig gestellt ist, wird sich die Küstenlinie des Zwergstaates verzehnfacht haben; Dutzende von Hotels und Tausende von Villen und Apartments werden die menschgemachten Strände säumen. Die Herrscher von Dubai möchten ihr Reich als Ferienparadies etablieren, als Vorsorge für die Zeit, wenn die Ölquellen am Golf versiegen.

Ökologen klagen, bei der Aufschüttung der Palmen-Inseln sei ein Korallenriff begraben worden; die aufgewühlten Sedimente hätten im weiten Umkreis die sensiblen Polypen mit einer tödlichen Schlammschicht überzogen; die Bestände von Fischen und Meeresschildkröten seien rückläufig. Dem Bauboom im Emirat werden diese Warnzeichen kaum Einhalt gebieten, zumal Kronprinz Sheik Mohammed höchstselbst die Geschäfte der Baufirma "Nakheel" lenkt. Die Pläne der Scheichs gehen ohnehin viel weiter: Die komplette Wasserfront wollen sie umgestaltet sehen, den höchsten Wolkenkratzer der Welt errichten, dazu einen gewaltigen Freizeitpark.

Und noch ein revolutionäres Bauwerk entsteht an den Gestaden des Golfstaates: Hydropolis, das erste Unterwasser-Hotel der Welt. Ab Weihnachten 2006 sollen sich Ultrareiche dort am Meeresgrund einquattieren und den Visonen der 70er-Jahre nachspüren können. Tauchausrüstungen müssen sie nicht anlegen - die Suiten werden trockenen Fußes zu erreichen sein.

Alexandra Rigos arbeitet als freie Journalistin zu Umweltthemen in Berlin.


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