Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 34 - 35 / 21.08.2006
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Daniela Weingärtner

Die grenzenlose Verbrecherjagd

Datensammlung in der EU: Das Schengener Informationssystem

Zu einer der Marotten Brüssels gehört der Ortsnamen-Tick. Der "Schengen-Raum", in dem die Grenzkontrollen abgeschafft sind, heißt so, weil sich 1985 die Regierungschefs von Deutschland, Frankreich und den Benelux-Ländern im Luxemburger Grenzort Schengen darauf verständigten, ein Kerneuropa aufzubauen, in dem nur noch die gemeinsamen Außengrenzen geschützt werden. Später schlossen sich weitere zehn Staaten dem Verbund an, auch Norwegen und Island, die nicht zur EU gehören. Großbritannien entschied sich für eine Version des "Schengen light".

Das Schengen-Informationssystem, kurz SIS, soll dafür sorgen, dass Gauner und Verbrecher sich diese Freiheit nicht zu Nutze machen, um unbemerkt mit einem geklauten Auto oder einem gefälschten Pass von einem Land ins andere zu verschwinden. "Man kann nicht von der Freiheit sprechen, ohne gleichzeitig von der Sicherheit zu reden", sagt Bernard Kirch, der Leiter des Schengen-Informationssystems. "Beides muss sich in einem Gleichgewicht befinden."

Kirch ist Franzose. In seiner Heimat, sagt er, sei es immer noch ein sensibles Thema, dass die Schlagbäume abgebaut wurden. Schließlich betrachte doch jeder Nationalstaat das Recht auf die Kontrolle seiner Außengrenzen als Zeichen von Souveränität. Dass in Deutschland dieser Integrationsschritt kaum als Bedrohung empfunden, sondern meist mit positiven Vorstellungen wie Bewegungs- und Reisefreiheit in Verbindung gebracht wird, nimmt er sichtlich überrascht zur Kenntnis. "Warten Sie nur, bis Ende 2007 Polen dem Schengen-Raum beitritt, dann ändert sich die Stimmung in Deutschland", sagt er mit grimmiger Zuversicht.

Es ist kein Zufall, dass ein Franzose der Chef ist über 16 Millionen gespeicherte Vorgänge, 35 Mitarbeiter und eine Computeranlage, deren Festplatten mancher Gauner wohl liebend gern blank putzen würde. Das Informationssystem ist zwar nach einem Luxemburger Grenzort benannt, steht aber in Straßburg, weil sich die Regierungschefs vor 20 Jahren darauf geeinigt haben, den Franzosen die Regie über die Verbrecherkartei zu übertragen. Wer sich hier umsehen möchte, muss den Besuch beim Innenministerium in Paris beantragen.

Das SIS passt nicht ins Strickmuster der regulären europäischen Institutionen. Es gehört zu den unzähligen Sonderkonstrukten, die irgendwann erfunden wurden, um alle Beteiligten zufrieden zu stellen - ein in Beton gegossenes Provisorium. Als Kulisse für "Mission impossible vier" eignet es sich denkbar schlecht. Der kleine Betonkasten steht in einer Gartenstadt mit idyllischen Häuschen und viel Vogelgezwitscher an Straßburgs südlicher Peripherie. Lediglich zwei hohe grüne Gitterzäune mit Stacheldrahtrollen und Gebüsch dazwischen lassen ahnen, dass an diesem Ort etwas Kostbares geschützt wird.

Im Keller des Gebäudes lagern jene Daten, die Polizeibeamte überall in den Schengen-Staaten ins Sys- tem einspeisen, wenn sie einen Vorgang von grenzüberschreitendem Interesse vermuten oder Hilfe bei den ausländischen Kollegen suchen. Grafisch dargestellt ist das SIS ein vielzackiger Stern. In der Mitte seht der Straßburger Server, an jeder Sternspitze das angeschlossene Computersystem eines Mitgliedslandes. Verbindungen ins Internet, die das Ganze anfällig für Hacker-Attacken machen würden, gibt es nicht. Das SIS ist ein reines Intranet.

Kirch macht an einem Beispiel klar, wie es funktioniert: "Am 2. Januar gegen 15 Uhr wird eine Bank in Aachen überfallen. Zwei Stunden später sind die fraglichen Banknoten im System erfasst. Am 3. Januar um neun wird in Brüssel ein Auto gestohlen und ebenfalls registriert. Gegen elf kontrollieren Polizeibeamte in Thionville eine verdächtige belgische Nummer. Die Datenabfrage ergibt, dass der Wagen in Brüssel gestohlen wurde. Im Kofferraum finden sich Banknoten aus dem Überfall in Aachen. Voilá - der Fall ist aufgeklärt", sagt der Ex-Ermittler und lächelt, als sei ihm soeben ein Coup gelungen.

Kirch liebt die Erfolgsstories aus seinem SIS. "Wenn zum Beispiel Fred P. in Lüttich aus dem Gefängnis entwichen ist", erläutert Kirch, "dann ordnet die belgische Polizei die Überwachung seiner Freundin an. Sie wissen schon - chercher la femme", zwinkert der Polizist. Doch Pauline ist verreist und so wandert ein Eintrag mit ihren persönlichen Daten ins SIS. In Barcelona wird sie wenig später beim Schwarzfahren erwischt. Die guardia civil macht eine Routineanfrage beim SIS - und schon wissen die Belgier, wo Freds Freundin steckt.

23.400 verdeckte Überwachungen sind derzeit im SIS gespeichert. Dazu kommen die Namen von 15.000 Menschen, die mit europäischem Haftbefehl gesucht werden. 10.000 Verdächtige werden observiert. Den meis- ten Speicherplatz aber belegt der Kampf gegen illegale Einwanderer - 766.885 von ihnen haben bereits einmal vergeblich in der EU Asyl beantragt und sollen beim nächsten Mal nicht mehr über die Grenze gelassen werden oder sind aus anderen Gründen im Schengenraum unerwünscht.

Auch in den EU-Institutionen wüssten viele nicht, dass das SIS nicht nur im Kampf gegen illegale Einwanderung eingesetzt werde, klagt Kirch. "SIS ist eine virtuelle Binnengrenze. Würde es diese Aufgabe nicht mehr wahrnehmen, könnte das nur bedeuten, dass die Kriminalität in Europa abgeschafft ist." Kein Wunder also, dass der Löwenanteil der 16 Millionen derzeit gespeicherten Daten sich nicht direkt mit Personen befasst. Gestohlene Autos werden ebenso erfasst wie Waffen, die bei einem Verbrechen zum Einsatz gekommen sein könnten oder Banknotennummern aus Einbrüchen. 1,8 Millionen geklaute oder verlorene Dokumente haben allein die holländischen Behörden ins System eingespeist - gemessen an der Einwohnerzahl ist das Europarekord.

Personenbezogene Daten werden drei Jahre lang aufbewahrt, Daten über Objekte ein Jahr. Bevor die Frist endet, erhält der betreffende Staat eine elektronische Erinnerung. Sollte der Vorgang noch aktuell sein, kann die Frist jeweils um ein Jahr verlängert werden. Und der Datenschutz? Da es sich um eine zwischenstaatliche Einrichtung handelt, ist nicht der Europäische Datenschutzbeauftragte zuständig. Die jeweiligen Länder sind dafür verantwortlich, dass bei den Daten, die sie ins System einspeisen, die rechtlichen Bestimmungen eingehalten werden.

Den Datenschützern bereitet der wachsende Datenberg, der sich im Rahmen der verstärkten polizeilichen Zusammenarbeit im Niemandsland zwischen den Mitgliedstaaten aufhäuft, allerdings Kopfzerbrechen. Auf der Europäischen Datenschutzkonferenz Ende April in Budapest erinnerten sie daran, "dass die bestehenden, in der EU angewandten Rechtsinstrumente des Datenschutzes zu allgemein gehalten sind, um einen wirksamen Datenschutz im Bereich der Strafverfolgung zu gewährleisten." Der geplante Rahmenbeschluss, der speziell den Umgang mit personenbezogenen Informationen im zwischenstaatlichen Bereich der Verbrechensbekämpfung regeln soll, müsse daher rasch verabschiedet werden. Er werde die bislang für das Schengen-Informationssystem geltenden Vorschriften ersetzen und dafür sorgen, dass bei den 500.000 Bewegungen, die täglich auf der SIS-Datenautobahn gemessen werden, die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen gewahrt bleiben.

Europol in Den Haag hat bislang keinen eigenen Zugang zum SIS. Im neuen SIS II, das derzeit im Keller des Straßburger Betonklotzes aufgebaut wird, sollen sie aber einen bekommen. Und Interpol? Haben die Zugang zu den Daten aus Straßburg? "Sind das alles Gentlemen?", fragt Kirch und erwartet nicht wirklich eine Antwort darauf. "Teilen sie alle unsere Werte? Länder wie Saudi Arabien oder die USA?"

Für das SIS II, das noch mehr Daten, auch biometrische Angaben zur Person, erfassen soll, wird derzeit im Keller eine große Fläche freigeräumt. Am Konzept des neuen Systems bastelt die EU-Kommission. Bernard Kirch macht keinen Hehl daraus, was er von den Plänen hält: "Ein monströses System denken die sich aus. So viele zusätzliche Daten, das frisst Speicherplatz. Und die Nutzer sollen direkten Zugang bekommen - das wird das komplette Chaos", sagt er abschätzig.

Dem Schengen-Informationssystem stehen noch mehr Änderungen bevor als nur ein paar neue Computer und eine Überholspur auf der Datenautobahn. Die EU-Kommission denkt jetzt sogar über ein völlig neues Organisationsmodell nach. "Es gibt mehrere Ideen, was künftig mit uns geschehen soll", erklärt Kirch. "Man könnte uns der EU-Kommission unterstellen, Europol zuschlagen oder der neuen Grenzagentur FRONTEX angliedern."

Dann lässt er durchblicken, welche Lösung er bevorzugen würde: "Die Deutschen finden, dass Frankreich hier gute Arbeit leistet. Man könnte also auch alles so lassen, wie es ist."

Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Brüssel.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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