Das Ansehen von Politikern ist gering: Achtung genießen gerade einmal zehn Prozent, Vertrauen bringen ihnen lediglich 7,8 Prozent der Bevölkerung entgegen. Woher rührt dieser Verlust an Respektabilität und unter welchen Voraussetzungen könnte er sich möglicherweise ändern? Einer, der es wissen muss, der Sozialwissenschaftler und Politiker Hermann Scheer, seit 1980 für die SPD im Bundestag und auch im Parteivorstand, Solarenergie-Experte und Träger des alternativen Nobelpreises, legt einen "Essay über die eigene Sphäre" vor.
Das Buch handelt von den Besonderheiten, den Selbst- und Fremdbeschränkungen dieses Berufes. Die Anspielung auf Dürrenmatts "Die Physiker" ist bewusst gewählt, heißt es doch bei ihm: "Die Methode der Physik geht die Physiker an, die Auswirkungen alle Menschen. Was alle Menschen angeht, können nur alle lösen." Das gelte für die Politiker allemal.
Scheer analysiert zwei parallel stattfindende Aushöhlungsprozesse: Die Gewichtsverlagerung von den Parlamenten hin zu den Regierungen entfalte eine entdemokratisierende Eigendynamik, weil Parlamente - wie beim "Atomkonsens" oder dem WTO-Vertrag geschehen - die Gesetzesvorhaben nur noch formal billigen; zum anderen führe die "inflationäre Regelungsdichte internationaler Verträge zu einem schleichenden Auszehrungsprozess der Demokratie". Beide Entwicklungen, Selbstbeschränkung und Kompetenzverlust, fördern die Erosion der Politik, verstärken die Entwicklung hin zur "Zuschauerdemokratie". So spielt die Grundfrage der Politik - die autonome demokratische Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens - im System der Politik und im Diskurs von Politikern fast keine Rolle mehr.
Wenn Marktliberalismus, die fortschreitende europäische Integration und die globale Zusammenarbeit verabsolutiert und dem Meinungsstreit entzogen werden, ist damit nicht allein der Funktionsverlust der nationalen Parlamente vorprogrammiert, auch das Demokratiebewusstsein schwindet. Denn die Menschen werden entkoppelt von den politischen Entscheidungen. Scheer beunruhigt, dass Debatten über die großen mittel- und langfristigen Zukunftsfragen kaum noch stattfinden.
Der Geschlossenheitswahn in den Parteien führt eben nicht nur zu sterilen, lernunfähigen Parteien, sondern auch zu individueller Profillosigkeit. Und je größer der Unmut über die Politiker, desto populärer würden wiederum die Entstaatlichungsparolen - ein Teufelskreis. Ist denkbar, dass die Bürger sich auf lange Sicht nicht mit der Unnahbarkeit transnationaler Institutionen und Unternehmen abfinden und mehr Staatsbedürftigkeit entwickeln?
Das Buch wertet langjährige Erfahrungen des passionierten Politikers Scheer aus. Die argumentationsstarke lesenswerte Analyse des Akteurs und Beobachters ist Zeitdiagnose und Selbstverortung zugleich. Grell leuchtet sie den Gestaltungsraum von Politikern aus und vermisst dessen Grenzen, die Scheer jedoch für veränderbar hält.
Allerdings fallen die Ratschläge schwammiger aus als die Diagnose: Um das "Ausleiern des politischen Systems" zu stoppen, fordert er demokratische Initiativen, änderungsoffene Debatten, langfristig angelegten Handlungsmut und die Neugier, über Alternativen nachzudenken. Scheer plädiert für einen idealistischen Realismus, eine Politica Maxima, schließlich sei die "Sehnsucht nach Politikern hoch, die Überzeugungen haben und dazu stehen".
Hermann Scheer
Die Politiker.
Verlag Antje Kunstmann, München 2003;
288 S., 19,- Euro