Neun Stunden tagte die Bundesversammlung am 5. März 1969 in der Berliner Ostpreußenhalle, bis das neue Staatsoberhaupt gewählt war. Erst nach dem dritten Wahlgang stand der Nachfolger von Heinrich Lübke im Amt des Bundespräsidenten fest: Gustav Heinemann.
Die Mehrheitsverhältnisse waren denkbar kompliziert in der Bundesversammlung, die sich aus 518 Abgeordneten des Deutschen Bundestages und 518 Delegierten der Landtage zusammensetze: 475 Stimmen entfielen auf CDU/CSU, 443 auf die SPD, 83 auf die FDP und 22 auf die NPD. Somit war klar, dass beide Bewerber - Heinemann trat für die Sozialdemokraten an, Bundesverteidigungsminister Gerhard Schröder war von der Union nominiert worden - sich schwer tun würden, im ersten oder zweiten Wahlgang die erforderliche Mehrheit von 519 Stimmen auf sich zu vereinigen. Selbst im dritten und entscheidenden Wahlgang - hier genügte die einfache Mehrheit der Stimmen - fiel das Ergebnis denkbar knapp aus. Für Heinemann votierten 512 Mitglieder der Bundesversammlung, 506 für Schröder, fünf enthielten sich der Stimme.
Aber nicht nur die Wahl selbst verlief spannend, auch ihre außenpolitischen Begleitumstände gestalteten sich extrem spannungsgeladen. Die Staaten des Ostblocks legten massiven Protest gegen die Wahl des westdeutschen Staatsoberhauptes im geteilten Berlin ein. So sah sich Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel, der die Bundespräsidentenwahl leitete, genötigt, klärende und deutliche Worte zu sprechen: "Die 5. Bundesversammlung ist nicht zusammengetreten, um irgend jemanden zu provozieren. Wer uns dennoch Provokation vorwirft, übersieht oder verschweigt, dass wir nichts beanspruchen, was uns nicht zusteht." Und weiter: "Ob, wann und in welcher Weise wir hier in Berlin zusammentreten und unsere Rechte wahrnehmen, das entscheiden wir allein; danach dient es es der Freiheit und dem Lebensrecht Berlins und der Berliner."
Vier Monate später, am 1. Juli 1969, trat Gustav Heinemann sein Amt als Bundespräsident mit der Vereidigung vor dem Bundestag an: "Ich trete das Amt in einer Zeit an, in der die Welt in höchsten Widersprüchlichkeiten lebt. Der Mensch ist im Begriff, den Mond zu betreten, und hat doch immer noch diese Erde aus Krieg und Hunger und Unrecht nicht herausgeführt. Der Mensch will mündiger sein als je zuvor und weiß doch auf eine Fülle von Fragen keine Antwort." Mehr innerstaatliche Demokratie, Aussöhnung mit den Nachbarn nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und den Dialog mit der Ende der 60er-Jahre rebellierenden deutschen Jugend nannte er als Schwerpunkte der vor ihm liegenden Arbeit.
Heinemann hatte bis dahin schon eine bewegte politische Laufbahn absolviert: Als Christdemokrat bekleidete er die Ämter des Oberbürgermeisters in Essen (1946 - 49) und des Justizministers in NRW (1947 - 49). Am 9. Oktober 1950 trat der überzeugte Pazifist als Bundesinnenminister im Kabinett Adenauer aus Protest gegen die Wiederbewaffnung zurück. Nach der erfolglosen Gründung der Gesamtdeutschen Volkspartei zusammen mit Helene Wessel wechselte er 1957 zur SPD, wurde erneut Bundestagsabgeordneter und 1966 Justizminister in der Großen Koalition.
Wie keiner seiner Vorgänger blieb Heinemann als Bundespräsident von Kritik verschont: im Inland galt er als wahrer "Bürgerpräsident", im Ausland bertrachtete man ihn als "Aushängeschild eines anständigen Deutschen", wie die britische Zeitung "Daily Telegraph" schrieb. Das Selbstverständnis Heinemanns lässt sich vielleicht am besten an einer Verfügung für sein eigenes Begräbnis ablesen: "Zu einem etwaigen Staatsakt sollen auch eingeladen werden: Schwer Kriegsbeschädigte, zum Beispiel Blinde, Kriegerwitwen, körperlich Behinderte, Soldaten, Zivildienstler, Gastarbeiter." An seinem Grab wollte er nur Familienangehörige und Freunde wissen, es sollten keine Reden von offizieller Seite gehalten, und das Geld für Kränze sollte an die Hilda-Heinemann-Stiftung gespendet werden. Als Begleiter auf seiner letzten "Reise" wünschte er sich Beamte des Bundesgrenzschutzes: "Er bewacht mich bei Lebzeiten, deshalb möge er auch den Sarg tragen."