Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 26 / 21.06.2004
Hans Vorländer

Große Worte und Debatten

Die Reden der Parlamentarier

Das waren noch Zeiten, als ein Abgeordneter in der Frankfurter Paulskirchen-Versammlung von 1848 ausrief, da er sich durch Zwischenrufe in seiner Rede gestört fühlte: "Meine Herren, ich habe das Wort, und niemand hat das Recht, mich zu unterbrechen." Heute wäre eine so apodiktische Mahnung an die Teilnehmer einer parlamentarischen Debatte wohl kaum noch möglich. Die Paulskirche steht am Anfang parlamentarischer Kommunikationsformen, die den demokratischen und modernen Parlamentarismus in Deutschland auszeichnen. Aber schon damals, das macht der Einwurf des zitierten Redners deutlich, war die Parlamentsdebatte bisweilen ein schriller Austausch von Meinungen und Ansichten.

Der Geschichte parlamentarischer Kommunikation geht Armin Burkhardt, ein ausgewiesener Vertreter der germanistischen Linguistik mit besonderem Interesse für die Sprache der Politik, in seiner gewichtigen Studie nach. Ihm geht es um nichts weniger als um eine "Beschreibung der Grundzüge des historischen Wandels parlamentarischer Verhandlungsstile". Der Autor tut dies, indem er, in mehreren historischen und theoretischen Anläufen, der parlamentarischen Sprache, der Kommunikation in Parlamenten, aber auch den Wendepunkten der Parlamentsgeschichte mit linguistischen Mitteln nachspürt.

Wendepunkte im Parlament

Eindrucksvoll ist, wie er mit sicherem Zugriff auf die bedeutenden Debatten und einige markante Zitate die Wendepunkte der deutschen Parlamentsgeschichte zu charakterisieren vermag. "Jetzt wird nicht mehr geredet, jetzt wird gehandelt!" - das bedeutete den Anfang vom Ende, nämlich die Umfunktionierung des Deutschen Reichstags zum Scheinparlament im März 1933. Oder: "Ich glaube, wir sollten es bei unserer ersten Sitzung, damit das Schiff in Fahrt kommt, mit den Formalitäten nicht so genau nehmen." - so konstituierte sich der Parlamentarische Rat 1948.

Als sich 1949 die Provisorische Volkskammer zusammen fand, hieß es in einem Debattenbeitrag: "Gerade die Einheit der Parteien hier im Osten ist das große Plus gegenüber den Krakeelereien der Parteien im Westen Deutschlands." Und die Selbstdemokratisierung der Volkskammer im November 1989 wird eingefangen mit: "Es war bei der Besonderheit dieser Lage so, dass 40 Jahre Sozialismus unter unseren Füßen wegrutschten." Und schließlich: "Die staatliche Einheit ist hergestellt" - der 4. Oktober 1990 als die Geburtsstunde des gesamtdeutschen Parlamentarismus.

Burkhardts Buch ist eine Fundgrube für die einschlägigen Zitate. Nirgends, so scheint es, sind die stenografischen Berichte der deutschen Parlamentsgeschichte so umfassend ausgewertet und für eine Geschichte der parlamentarischen Kommunikation verfügbar gemacht worden. Damit sind aber weder das Anliegen noch der Inhalt der Studie hinreichend erfasst. Es folgen Kapitel zur politischen Sprache, zur Parlamentssemiotik, zur parlamentarischen Kommunikation, zur parlamentarischen Sprache, ein höchst interessanter und instruktiver Vergleich zweier, von Burkhardt als "ideal" bezeichneter Debatten, nämlich die Selbstverständnisdebatte der Paulskirche und die so genannte Berlin-Debatte des Bundestages. Und als ob dies noch nicht genug wäre, wird die Arbeit mit einer fast 100-seitigen Geschichte der Parlamentsstenografie und des Protokollwesens beschlossen.

Ohne bündiges Konzept

Die Stärke der Studie ist zugleich auch ihre Schwäche. In immer neuen Anläufen werden unterschiedliche analytische Gesichtspunkte, basierend auf unterschiedlichen theoretischen Annahmen, unternommen, um den verschiedenen Dimensionen parlamentarischer Kommunikation, vor allem aber der Fülle des Materials Herr zu werden. Die Teile bleiben additiv, werden nicht in ein bündiges, integratives Konzept der Analyse und der Darstellung eingebunden. Deshalb auch ist die Lektüre über weite Strecken ermüdend. Das Buch vereinigt Einzelstudien, anregend und illustrativ, es fehlt aber der große verbindende analytische Rahmen. Es wird suggeriert, dass die Geschichte parlamentarischer Kommunikation auf eine Verfallsgeschichte parlamentarischer Debattenkultur zuläuft.

Um von der parlamentarischen Kommunikation auf ein "Leiden am politischen System selbst" zu schließen, bedarf es dann doch einer etwas umfassenderen Analyse sowohl des Parlamentarismus, seiner Funktionen und Aufgaben, wie auch des politischen Systems selbst. Analyse der parlamentarischen Sprache ist ein wichtiger Teilaspekt, erfasst aber nicht das gesamte politisch-parlamentarische Geschehen.

Und was soll die Bemerkung, "dass die Legislative, statt die Exekutive zu kontrollieren, tendenziell zu deren Handlanger herabgekommen ist"? Hier scheint dann doch wohl ein profundes Missverständnis über die Funktion des modernen parlamentarischen Systems vorzuliegen. Es dürfte doch bekannt sein, dass die Regierung im parlamentarischen, anders als im präsidentiellen, nicht zu reden vom monarchischen, System von der Mehrheit des Parlamentes gestützt und getragen wird, im Parlament also Regierungsmehrheit und Opposition sich das politische Widerspiel liefern.

Liegt die Schwäche der Arbeit im analytischen Gesamtrahmen, so liegt ihre Stärke in der Einzelfallanalyse der parlamentarischen Debattensprache. Hier hat Burkhardt einen wichtigen Beitrag geliefert.

Armin Burkhardt

Das Parlament und seine Sprache.

Studien zu Theorie und Geschichte parlamentarischer Kommunikation.

Reihe Germanistische Linguistik, Band 241.

Niemeyer Verlag, Tübingen 2003; 608 S., 154,- Euro


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