Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 31-32 / 26.07.2004
Thomas Kirchner

Konsequentes Abseitsstehen oder "Stillesitzen"

Die Schweizer sind Extrem-Föderalisten: Die Grenzen sind ihnen besonders wichtig, denn sie haben so viele davon

Wenn es um ihre Grenze geht, verstehen die Schweizer keinen Spaß. "Erpressung!" und "Schikane!" brüllte die eidgenössische Presse, als irgendein deutscher Beamter oder Politiker im März dieses Jahres beschloss, die Bestimmungen des Schengen-Vertrages fortan genauer zu lesen und die laxen Kontrollen an den deutsch-schweizerischen Übergängen zu verschärfen. Lange Staus in Weil, Laufenburg oder Säckingen waren die Folge, und es bedurfte einiger diplomatischer Verrenkungen, die aufgebrachten Schweizer zu kalmieren. Auch glimmt noch immer der Streit um den Anflug auf den Flughafen Zürich, der den Südschwarzwäldern den Schlaf raubt. Und es droht ein weiterer Grenzkonflikt: Hochsubventionierte Schweizer Bauern drängen nach Baden-Württemberg und kaufen ihren weniger solventen deutschen Kollegen das Land vor der Nase weg. Es ist kein übersteigerter Nationalismus, der die Empfindlichkeit der Schweizer hervorruft. Grenzen sind diesen Extrem-Föderalisten wichtig, sie haben so viele in ihrem eigenen Territorium. Nur wenige Kilometer müssen sie fahren, um vom Kanton Schwyz über Luzern und Zug in den Kanton Aargau zu gelangen. Und all die anderen Trennlinien: zwischen den vier Sprachgruppen, zwischen Katholiken und Protestanten, Bauern und Städtern. Die Grenze - sie bot stets Schutz vor den europäischen Stürmen ringsherum. Nicht zuletzt war sie konstitutiv für die Identität des Landes: die Grenze als prekäre Außenhaut einer heterogenen Zusammenballung, die weder ethnische noch sprachliche Gemeinsamkeiten einen, die sich vielmehr in einem fortdauernden politischen Willens-Akt zur Nation formt. Der neue Justizminister Christoph Blocher sagt: "Unsere Vorfahren wussten, warum es der Grenzen bedarf" - ein Satz aus dem Munde eines Ultrakonservativen zwar, der aber durchaus das Gefühl eines großen Teils der Bevölkerung beschreibt. Denn so entstand die Eidgenossenschaft schließlich: indem sie Grenzen setzte, sich abgrenzte, von den territorialen Ansprüchen der Habsburger zunächst, dann vom Deutschen Reich, von dem sie sich de facto um 1500 lossagte, de jure 1648. Im Westfälischen Frieden erlangten die Schweizer die völkerrechtliche Anerkennung ihrer Souveränität, doch blieben mancherorts rechtliche Bande mit dem Kaiser, und die Grenzen waren nirgendwo klar definiert. Oft wussten die Eidgenossen selbst nicht, wer nun genau zu ihrem lockeren Bunde gehörte. Zum "richtigen" Staat machte erst Napoleon die Schweizer Städte und Kantone, als er 1798 die Helvetische Republik ins Leben rief. Und mit der Gründung des Bundesstaates im Jahre 1848 entstand die liberale Demokratie, wie wir sie jetzt kennen. Vor allem wegen der weitreichenden Volksrechte galt sie als politischer Vorreiter in Europa. Früh hatten die alten Eidgenossen beschlossen, ihre Grenzen kriegerisch nicht zu überschreiten, "seit Marignano", wie es in den Schulbüchern steht, jener 1515 vor den Toren Mailands verlorenen Schlacht, die schmerzlich lehrte, wie leicht eine kleine Macht im Kräftespiel der Großen zerrieben werden kann. Jahrzehnte zuvor hatte Niklaus von der Flüe seine Landsleute gewarnt: "Mischt euch nicht in fremde Händel, verbindet euch nicht mit fremder Herrschaft", und: "Macht den Zaun nicht zu weit, damit ihr eure Freiheit genießen könnt." Später wurde Bruder Klaus zum Heiligen erklärt, seine Leitsätze brannten sich förmlich ein ins kollektive Geschichtsbewusstsein, dienten als Grundlage der so außerordentlich erfolgreichen Schweizer Neutralitätspolitik, die von den europäischen Mächten 1815 auf dem Wiener Kongress offiziell sanktioniert wurde. Nur dank konsequentem Abseitsstehen oder "Stillesitzen", so die allgemeine Überzeugung, hat das Land über die Jahrhunderte hinweg kriegerischen Konflikten aus dem Weg gehen können, selbst den alle erfassenden, alles umwälzenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Und es stimmt ja: Ein anderes Verhalten, jegliche eindeutige Parteinahme hätten die Schweiz zerrissen, wie der Graben zeigte, der sich zwischen deutschschweizerischen Reichsanhängern und welschen Frankreich-Freunden zur Zeit der deutsch-französischen Konflikte auftat. Für ihren Frieden zahlte die Schweiz indes einen Preis: Das weltoffene klassische Asylland des 19. Jahrhunderts, das Flüchtlinge aus Polen, deutsche Sozialdemokraten, russische Nihilisten und Anarchisten aufgenommen hatte, machte die Grenzen plötzlich dicht, auch um es sich mit den Herren in Berlin nicht zu verderben. Ein paar Prominente ließ man noch herein, viele Tausende meist jüdische Verfolgte des Nazi-Regimes hingegen wurden während des Zweiten Weltkriegs zurückgewiesen, was für die meisten den sicheren Tod bedeutete. Gleichzeitig baute die Schweiz eine massive Verteidigung auf, gipfelnd im berühmten Réduit-Plan, der aus den Alpen ein von Höhlen durchzogenes Rückzugsgebiet machte. Kurz: Das Land wurde zum Igel, der sich hinter seiner wehrhaften Hülle verkroch. Wie eine Barriere vor der Barbarei erschien sie den Schweizern, als Europa unter der Knute der Deutschen stand. So nachhaltig war diese Erfahrung, und so gut hatte sich die bewaffnete Neutralität bewährt, dass es die Schweiz nach 1945 dabei beließ und jener Sonderfall blieb, der sich aus der europäischen und, als Nicht-UNO-Mitglied, auch aus der Weltpolitik verabschiedete. Noch 1986 lehnten die Bürger den Beitritt zur Weltorganisation mit klarer Mehrheit ab, bevor sie vor zwei Jahren schließlich eher missmutig zustimmten. Der Beitritt zur Europäischen Union wiederum liegt in weiter Ferne. Er wird nicht einmal ernsthaft diskutiert. Selbst als am 1. Mai dieses Jahres die Zeitungen Landkarten des erweiterten Europas druckten, auf denen die winzige Insel Schweiz im angeschwollenen Meer des Kontinents zu verschwinden schien, flackerte die Debatte nur kurz auf. Der Bundesrat in Bern hält das Thema derzeit für nicht opportun. Zumindest in den kommenden vier Jahren will die Regierung nicht darüber reden und das 1992 eingereichte Beitrittsgesuch weiterhin in einer Brüsseler Schublade verstauben lassen. Das Gremium hat bei mehreren Gelegenheiten gelernt, wie skeptisch die Bürger sind: Zum ersten Mal 1992, als eine knappe Mehrheit den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ablehnte, dem Vorzimmer der EU; zum vorerst letzten Mal im Jahr 2001, als 77 Prozent gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen stimmten. Offenbar glauben die Schweizer lieber Patrioten wie Christoph Blocher, der alles bedroht sieht durch Brüssel, was den Eidgenossen heilig ist: die Souveränität, den Föderalismus, die direkte Demokratie. Da hilft es wenig, daran zu erinnern, dass kaum ein anderer europäischer Staat wirtschaftlich so stark mit der Welt verflochten ist. Pro Kopf exportieren nur Luxemburg und die Niederlande mehr Waren und Dienstleistungen als die Schweiz, die das US-Magazin "Foreign Policy" auf Platz zwei ihres "Globalisierungs-Indexes" setzt. Wenn es ihren Geldbeutel betrifft, gehen die Eidgenossen mit der Grenze eher pragmatisch um. Sie wahren sie, wie bei der Sicherung des lukrativen Bankgeheimnisses, doch sie übertreten sie auch gerne, siehe die beliebten Einkaufstouren zu preiswerten deutschen Supermärkten. Politisch aber verharrt die Schweiz in der selbstgewählten Isolation. Dass sie bald das Schengener Abkommen unterzeichnet, ändert daran wenig. Der Reisende muss dann nicht mehr seinen Pass zeigen, aber man wird ihn weiterhin bitten, den mitgeführten Chianti zu verzollen. Je stärker sich die Europäer integrieren, desto deutlicher wird die Schweizer Grenze zur Außengrenze Europas. Umso sichtbarer tritt sie gleichzeitig als Alternative hervor, als Gegenentwurf zum supranationalen, gleichmacherischen Ansatz der Union. Es geht auch anders, scheinen die Schweizer zu beweisen: nämlich allein. Sind sie nicht reich und glücklich, Meister ihres Schicksals, frei von den Fängen der Brüsseler Bürokraten? Und könnte die EU, dieses heterogene, von den Erfahrungen der Geschichte und vom politischen Willen zusammengehaltene Gebilde - eine Art große Schweiz - nicht auch einiges lernen von den konsensualen, Gegensätze ausgleichenden Mechanismen dieses kleinen Landes? Mag sein. Doch die Außenseiter-Rolle wird zusehends schwieriger. Der Schweizer Wohlstands-Vorsprung ist fast dahin, die Wachstumsraten dümpeln seit Jahren auf kläglichem Niveau. Man wird sich an die Vorstellung gewöhnen müssen, dass die europäische Flut dieses Inselchen dereinst überschwemmt. Thomas Kirchner Der Autor ist Schweiz-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" in Zürich.


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