Als ein anheimelnder Ort hat sich das "globale Dorf" jedenfalls nicht erwiesen, von dem schon früh einmal die Rede war. Trotz oder wegen aller Echtzeit-Teilhabe in Bild und Ton am Weltgeschehen - vom Politiker-Spaziergang in Sea Island bis hin zur Enthauptung von im Irak Gekidnappten im Internet. Und dass manche Büroarbeit genauso gut in Kalkutta erledigt werden kann wie daheim, ist eher befremdlich als beruhigend.
Ja, Deutschland selber scheint nicht mehr verlässlich fest gefügt zu sein. Nicht nur, dass sich die Kluft zwischen Ost und West nicht schließen will. Die Wogen der Globalisierung branden an, und das zeigt sich nicht nur am Hemden-Etikett mit der Aufschrift Made in Bangladesh. Leichtlohn-Zumutungen stehen ins Haus und teurerer Zahnersatz sowieso; der alte westdeutsche Sozialstaat ist unbezahlbar geworden, plötzlich erweist sich: er war eine Wohlfahrtsveranstaltung ohne gedeckten Wechsel (wie auch, auf andere Weise, die DDR). Auf dem Bahnsteig darf sich Kind wie Greis vom eigenen Koffer gerade mal einen knappen Meter entfernen, sonst droht Terroralarm. Selbst die militärische Verteidigung des Vaterlandes ist nicht mehr das, was sie war. Sie findet heute, sagt der zuständige Minister Peter Struck, auch am Hindukusch statt - irgendwo in der Unendlichkeit des afghanischen Hinterlands. Und Afrika, so ist immer öfter zu hören, sei jetzt unser unmittelbarer Nachbar.
Bei so viel Entgrenzung neuen Halt und neue Orientierung zu gewinnen, politisch wie im eigenen Gefühlshaushalt, ist kein unbilliger Wunsch. Es ist eine Notwendigkeit. An Versuchen, sie zu bieten, fehlt es nicht. Und nur naheliegend war es, dabei am Festgefügten anzuknüpfen: an der vertrauten Blockkonfrontation. Getreu dem Motto, mag die Geschichte noch so von Brüchen durchzogen sein, stets gibt es auch Beständiges. Der sicher meist diskutierte Welterklärer ist in letzter Zeit der Amerikaner Samuel P. Huntington mit seinem Buch The Clash of Civilizations (deutsch: Kampf der Kulturen) gewesen. Wobei es hilfreich ist zu wissen, dass der Harvardprofessor einem Institut vorsteht, zu dessen Aufgaben es schon damals, 1996, gehörte, der US-amerikanischen Regierung - also der einzigen verbliebenen Weltmacht - in Sicherheitsfragen zur Seite zu stehen.
Was sagt uns Huntington? Auf einen kurzen und zugegeben versimpelten Nenner gebracht, sagt er: Schütze deinen eigenen (bedrohten) Kulturkreis, hüte dich vor anderen, vor allem nimm dich in Acht vor dem islamischen. Das ist zwar nicht sonderlich hilfreich dabei, mit solchen globalen Bedrohungen wie der stürmisch fortschreitenden ökonomischen Entgrenzung oder den Klimakillern Ozon und Kohlendioxid anders und besser umzugehen. Und es erspart auch nicht die Notwendigkeit, darüber nachzudenken, wie der existenziell großen Not anderswo auf der Welt begegnet werden kann. Aber es verheißt mehr Selbstgewissheit, wo man selber hingehört. In Abgrenzung zu all dem Durcheinander draußen. Nicht zufällig heißt ein Kapitel in Huntingtons Buch: "Der Westen und der Rest der Welt."
Nun übersetzt man "Clash" am treffendsten mit Zusammenprall. Und so ist es auch kein Wunder, dass Huntingtons Kernthese nach dem 11. September 2001 in Talkshows und sonst wo besonders stark öffentlich erörtert wurde. Zwei Passagierflugzeuge waren in die New Yorker Twin Towers gerast - dorthin gesteuert von islamistischen Terroristen, im Namen einer anti-westlichen Gegenkultur. Amerika hatte die noch nie da gewesene Erfahrung eigener Verwundbarkeit gemacht, auf eigenem Territorium. Ein wahr gewordener Albtraum - und einer, zu dem das Huntingtonsche Weltgemälde ganz gut passte.
Das Weitere ist bekannt. In der von US-Präsident George W. Bush sogleich ausgemachten globalen "Achse des Bösen", der mit einer "Koalition der Willigen" zu begegnen sei, spiegelt sich die alte, so kommod gewesene Zweiteilung der Welt in eine gute und eine schlechte wider. Auch gedankliche Anleihen bei Samual P. Huntington sind unübersehbar. Als kleine spielerische Abwandlung von beidem mag man die erstaunliche, alle Geografie und Geschichte ignorierende Unterscheidung des US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld in ein "neues" Europa betrachten, das die Zeichen der Zeit erkannt hat, und ein "altes", das sich ihnen bockig und uneinsichtig widersetzt.
Man kann auch nicht sagen, dass sie viel eingebracht hätte. Es war eine Stichelei aus vordergründigen politischen Motiven: geschuldet dem vergeblichen Werben, doch bitte am Krieg gegen den Irak teilzunehmen. Aber der "Krieg gegen den Terrorismus" und die "Achse des Bösen" hat - nun, da er gegen alle Warnungen doch geführt wurde - die Welt nicht friedlicher, sondern unsicherer gemacht. Das stellte das neueste Friedensgutachten 2004 von fünf deutschen Forschungsinstituten noch einmal fest - und so wird es ja auch allenthalben empfunden. Wenn aber der Wunsch nach Orientierung und Geborgenheit mittels großen Erklärungen wie dem Kampf der Kulturen keinen Halt findet, wo dann?
Wie ein Zauberwort begleitet uns seit einiger Zeit der Begriff der "europäischen Identität". Zwar können viele Menschen schwerlich die 25 Länder aufzählen, die seit diesem Frühsommer unterm Dach der Europäischen Union versammelt sind - und Europa endet ja auch nicht an der weißrussischen Grenze, wo die Radsätze der Eisenbahnwaggons für eine Spurbreite ausgetauscht werden, die dann allerdings weit aus Europa hinausführt. Aber wenigstens handelt es sich bei diesem Europa um einen Raum, der noch halbwegs überschaubar erscheint. Und das auch dann, wenn man selber noch nie in Valetta, Dublin, Tallinn oder selbst in Paris und Warschau gewesen ist. Allein, dass diese Orte in Europa liegen, hat etwas Tröstliches.
Das europäische Haus, sagen Politiker indessen gern, müsse noch "mit Leben erfüllt" werden. Sie meinen damit in erster Linie das Funktionieren der EU-Institutionen. Aber sie wissen auch, dass sich die Bürger - gleich ob sie in Deutschland, Portugal oder Slowenien leben - durch diese Institutionen vertreten fühlen müssen, noch besser: sich in ihnen wiedererkennen sollten. Aber so weit ist es noch nicht. Bei den ersten Wahlen zum erweiterten Europäischen Parlament vor einigen Wochen hatten sie vor allem eines im Sinn: quer durch Europa ihre eigenen nationalen Regierungen abzustrafen - für alles Mögliche, was gerade zu Hause als Zumutung oder Ärgernis empfunden wurde.
Ganz alltagspraktisch betrachtet, ist es mit dem europäischen Wir-Gefühl nicht weit her. Es gibt vielmehr einen Rückzug ins Lokale und Regionale. Und wer unterm Stichwort "Europäische Identität" deutsche Partei-, Wahl- und Regierungsprogramme durchforstet, stellt fest: Alle Parteien verstehen darunter, was sie gerade selber als besonders sinn- und identitätsstiftend ansehen: die Sozialdemokraten den Solidargedanken, die Union die Wertegemeinschaft, die Grünen das öko-soziale Gewissen und die Liberalen den weltläufigen libertären Bürgermenschen. Dabei gehörte doch, könnte man meinen, das alles zusammengebracht.
Ängste der Menschen dämpfen
Ein so faszinierendes Projekt wie die Schaffung eines "Sozialraums Europa" geistert zwar gelegentlich durch die Köpfe von Politikern und Politologen; tatkräftig angepackt wird es von niemandem. Dabei wäre doch gerade ein solcher Vorsatz geeignet, die Ängste der Menschen vor den Zumutungen der "von außen" über sie kommenden Globalisierung zu dämpfen. Und mit Einigeln im Eigenen müsste es überhaupt nicht einhergehen - im Gegenteil. Offenheit gegenüber dem Anderen sollte gerade eines seiner Markenzeichen sein. Eine Art Lackmustest für diese Fähigkeit könnte sein, ob es gelingt, die Türkei ins vereinte Europa zu integrieren. Nicht ohne Bedingungen - aber ohne dieses Land auf der Schwelle zu einem anderen Kulturkreis seiner Identität berauben zu wollen, die nicht zuletzt eine religiöse, eben islamische ist.
Ein Lackmustest ist schon jetzt, wie wir mit dem Thema Zuwanderung umzugehen verstehen. Und der Terrorismus? Armut und Ungleichheit anderswo sind nicht seine Ursachen, heißt es immer wieder, aber sie sind ein Nährboden für ihn. Der Terrorismus wird nur zu besiegen sein, wenn es gelingt, ihm diesen Humus zu entziehen. Eine "Achse des Bösen" quer durch die Welt zu legen, hilft dabei nicht weiter. Die neuen "asymmetrischen Kriege" sind mit Bomben-Power nicht wirklich zu gewinnen; kein Selbstmordattentäter wird ihretwegen von seinem Plan ablassen. Gefragt ist Soft-Power, gerade auch europäische Soft-Power. Sie benötigt einen militärischen Arm, das schon. Sonst wirkte sie bloß weichmütig und bräuchte nicht ernst genommen werden. Aber ihre eigentliche Stärke muss anderswo liegen: bei ziviler Krisenprävention und Konflikteindämmung, mit den Mitteln ökonomischer Einbindung, durch den Einsatz multilateral abgestimmter Diplomatie, durch Entwicklungszusammenarbeit mit alarmierend armen Weltgegenden. Was kann daran so schmerzlich sein, für letzteres mehr als jene dünnen 0,28 Prozent des Bruttonationalprodukts abzuzweigen, die es in Deutschland sind. Der kleine Nachbar Niederlande bringt es auf fast das Dreifache.
Alles ein bisschen viel. Zu viel? Die Entgrenzung der Welt nach dem Ende der Blockkonfrontation - sie ist schwerlich wieder einzufangen. Weder mit bipolaren Gedankenkonstrukten noch durch ängstlichen Rückzug ins Nationalstaatliche. Es kommt darauf an, die richtige Mischung aus neuer Offenheit und alter Selbstverortung zu finden - politisch, ökonomisch, sozial, kulturell. Europa ist dafür nicht der schlechteste Erprobungsraum. Wer zu spät kommt, den bestraft die Globalisierung. Johannes Schradi arbeitet als freier Journalist
in Berlin.