Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 38 / 13.09.2004
Christian Hacke

Viele Perlen unter sehr viel Wust

Bill Clintons voluminöse Erinnerungen
Bill Clinton, der Popmusik liebt und bei der Amtseinführung einen entsprechenden Rahmen wählte, war am Ende seiner Präsidentschaft selbst zum Popstar avanciert. Clinton ist Kult nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland, wie seine jüngste Reise anlässlich der Vorstellung seiner Memoiren gezeigt hat. Noch nie haben Erinnerungen eines Präsidenten derart intensive Reaktionen ausgelöst, noch nie wurden sie in so hohen Auflagen gedruckt, noch nie so viel Vorschuss gezahlt.

Doch lohnt sich die 1.450 Seiten umfassende Lektüre? Der Leser braucht einen langen Atem und muss sich auf unkonventionelle Lesegewohnheiten einstellen. Die gute Nachricht lautet: Die Sätze haben Punkt und Komma. Die schlechte dagegen ist: Es gibt keine Gliederung, keine Schwerpunkte, keinen roten Faden, keine Unterscheidung zwischen Politischem und Privatem. "Mein Leben" gleicht einem Konvolut, einem sperrigen, massigen, schweren Klotz, der unzulänglich bearbeitet wurde. Die Schwerpunkte muss der Leser erst für sich in einem mühsamen Prozess heraussuchen.

Clinton macht es dem Leser nicht leicht. Aber wenn man sich auf seinen Stil einlässt, stößt man auf interessante, überraschende und aufschlussreiche Informationen. Er beschreibt seine facettenreiche Entwicklung von der Geburt nach einem heftigen Sommergewitter in Hope am 19. August 1946 bis in die heutige Zeit. Doch was er im "Spiegel"-Interview als eine "ziemlich gute Geschichte" schildert, ist ein weitschweifiger, langatmiger Bericht der mannigfaltigen Stationen seines Lebens: Nach dem Jurastudium wird Clinton zum am längsten amtierenden Gouverneur seines Heimatstaates Arkansas, wo er sich schon als neuer Kennedy, als politisches Naturtalent und als charismatischer Visionär zu präsentieren versucht. Bis der Leser zum politischen Kern, der Zeit der Präsidentschaft, vorstößt, muss er sich durch 476 Seiten quälen.

Doch auch für die Präsidentschaft fehlen ein roter Faden oder eine Gliederung nach sachlichen, persönlichen, politischen oder anderen Gesichtspunkten. Die Mängelliste der gnadenlosen Kritikerin der "New York Times", das Buch sei geschwätzig, schlampig, eigensüchtig und einschläfernd langweilig, kann nur schwer widerlegt werden.

Umsichtige Außenpolitik

Doch darf dabei nicht übersehen werden, dass sich im Wust von Banalitäten und Selbstgefälligkeiten eine Außenpolitik und ein Präsident verbergen, der auf behutsame, umsichtige und visionäre Weise die USA auf das 21. Jahrhundert vorbereitet hat. Ähnlich wie Harry Truman durchschritt Bill Clinton während seiner achtjährigen Präsidentschaft einen bemerkenswerten politischen Reifeprozess. Schien er anfangs unsicher, so entwickelte er Machtbewusstsein und taktisches Geschick. Er verbrämte amerikanische Machtpolitik mit weltwirtschaftlichen Argumenten und wurde zum ersten Präsidenten, der die Interessen der USA im Zeichen der Globalisierung primär ökonomisch zu verwirklichen suchte.

Klug versucht er, konservative Kritiker zu widerlegen, er hätte Amerikas militärische Stärke aufs Spiel gesetzt und in außenpolitischen Krisen versagt. Ausgiebig verteidigt Clinton seine Maßnahmen gegen den Terrorismus und gibt offen zu, dass seine größte Enttäuschung darin besteht, bin Laden nicht gefasst zu haben. Linke Kritiker versucht er zu widerlegen, dass er den Genozid in Ruanda nicht verhindert, im Bürgerkrieg auf dem Balkan zu lange zugeschaut und internationale Organisationen, wie die UNO geschwächt oder vernachlässigt habe.

Clinton beschreibt eindringlich, wie sich 1993 die humanitäre Intervention in Somalia, von Präsident Bush sen. eingeleitet, unter seiner Ägide zur Katastrophe entwickelte, als 24.000 UN-Soldaten, darunter 4.000 Amerikaner, vergeblich für Ordnung zu sorgen suchten. Der Versuch, einen Warlord zu fangen, endete im Blutbad. Unvergessen die Fernsehbilder, als Amerikaner durch Mogadischu geschleift wurden und Clinton sich daraufhin zum Rückzug entschloss

Diese Entscheidung war in den Augen der Republikaner eine Ursünde: Amerika darf nicht Schwäche zeigen und sich wegstehlen. Clintons angebliche Feigheit wurde zur Voraussetzung und zum Ausgangspunkt für den unabwendbaren Aufstieg der Neokonservativen in den USA und vor allem innerhalb der Republikanischen Partei. Doch Clintons Analyse und Erklärung für sein Verhalten macht Sinn und stimmt nachdenklich. Eigentlich habe er den Warlord weiterjagen wollen, doch dann "hätten wir, und nicht die UNO, Somalia besessen. Ohne Garantie, dass wir das Land besser aufbauen würden als die UNO." Angesichts der prekären Erfahrungen des Irak-Krieges wirkt diese Lagebeurteilung hellsichtig. In der Rückschau erscheint seine Politik vielleicht für Neokonservative feige und zögerlich, für andere aber klug und mit Sinn für Grenzen und Proportionen von Amerikas Rolle in der Welt.

Distanz zum Nachfolger

Clintons Außenpolitik war nicht fehlerfrei, aber von Bushs Militanz weit entfernt. Clinton grenzte sich geschmeidig mit seiner Politik der Globalisierung von der seines Nachfolgers ab. Er hielt nichts von einem manichäischen Weltbild. Die Memoiren zeigen vielmehr, dass Bill Clinton amerikanischen Universalismus im Sinne einer zivilisatorischne Vorbildrolle verstand, aber vor militärischer Intervention zurückschreckte. Es sei eine jahrhundertealte Zwangsneurose zu glauben, so schreibt er, dass unsere Unterschiede wichtiger sind als unsere gemeinsame Menschlichkeit, wenn er die Ausbreitung von Demokratie als Ziel seiner Außenpolitik begründet.

Ist der Titel der Rezension im neokonservativen "Weekly Standard" ("Schrumpfender Clinton, dickes Buch, schmales Vermächtnis") gerechtfertigt? Es ist in der Tat ein dickes Buch und der Leser muss sich durch viel Überflüssiges durchwühlen. Es gleicht Tagebucheintragungen, Protokollen, Lebensbeichten, Zeitanalysen und inneren Monologen. Vieles verschwimmt zu oft in einem ermüdenden Konglomerat, wobei Clinton weder die inneren Monologe nach Vorbild von James Joyce im Auge hat, leider aber auch keine Konzentration und sachpolitische Dichte wie viele seiner Vorgänger.

Dem Buch fehlt auch Systematik, gedankliche Disziplin und eine klare Trennung von Politik und Moral im öffentlichen und persönlichen Leben. Die Lewinsky-Affäre wird von ihm vielmehr moralisch pädagogisch aufbereitet, wobei Clintons Sinn nach Reue und religiöser Erlösung seltsame, ja zum Teil peinliche Eindrücke hinterlässt. Zwar war diese Affäre im Vergleich zu Nixons Watergate von privater Leichtigkeit geprägt, aber die Kosten waren auch für Clinton hoch. Die Affäre überschattet bis heute seine Präsidentschaft. Deshalb sucht Clinton in seinen Erinnerungen die Gründe für die Hatz auf ihn weniger in seinen persönlichen Verfehlungen, sondern mehr im Bedürfnis der Republikaner nach Rache. Diese wollten nach dem Ende der Sowjetunion einen neuen Feind im amerikanischen Präsidenten erfinden, so Clinton. Das klingt reichlich übertrieben. Der Versuch, die amerikanische Rechte ins Abseits zu stellen, wirkt wenig überzeugend.

Doch eines machen die Memoiren deutlich: Bei Clintons privaten Affären wirkten pharisäerhaftes Moralisieren sowie Gewinn- und Sensationssucht der Medien und der Republikaner auf bedenkliche Weise zusammen. Die eifernden Ankläger wirkten abstoßend, Clintons Verhalten lediglich anstößig. Oder wie man auf einem amerikanischen Aufkleber lesen kann: "When Clinton lied nobody died."

Die Memoiren zeigen auch, wie sich unter Clinton die Rolle des Präsidenten insgesamt verändert hat: Vom Chef im Weißen Haus zum Chefkoordinator eines immer komplizierter werdenden Regierungssystems. Clinton wurde zum Taktieren gezwungen, seine Amtshandlungen bezogen sich immer weniger auf die klassische Rolle als Staatschef, sondern immer mehr auf die des Chefkoordinators. Bei Clintons außenpolitischem Führungsstil stieg natürlich der Handlungsspielraum für Außenministerin Albright und Verteidigungsminister Cohen. Beide personifizierten einen zupackenden Internationalismus, der in der zweiten Amtsperiode Clintons zum Zuge kam und seiner Außenpolitik realpolitischen Schwung verlieh.

Nicht nur in Clintons Erinnerungen, sondern objektiv gesehen fällt die außenpolitische Bilanz seiner Regierungszeit überwiegend positiv aus: Er stellte die Führung der USA in der Welt wieder her, nicht zuletzt ökonomisch und zivilisatorisch. Clinton hat unter den neuen Bedingungen von Globalisierung Amerikas Rolle in der Welt vergrößert, sein Ansehen gestärkt und seine Interessen ausgedehnt. Die USA als sanfter Hegemon mit zivilisatorischem Führungsanspruch wurde von Clinton vorbildlich verkörpert, - hätte er doch nur genügend Disziplin und gedankliche Konzentration aufgebracht, diese Leistungen angemessen in seinen Erinnerungen darzustellen! So bleibt als Fazit festzuhalten: Persönlichkeit und Politik von Präsident Clinton waren weitaus eindrucksvoller als die Erinnerungen vermuten lassen.

Bill Clinton

Mein Leben.

Econ Verlag, Berlin 2004;

1472 S., 28,- Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.