Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 43 / 18.10.2004
Claudia Heine

Übergangslösung Nummer Eins

Damals ... vor 15 Jahren am 24. Oktober: Die Volkskammer wählt Egon Krenz zum Vorsitzenden des Staatsrates

Egon Krenz ist die Verkörperung der Mittelmäßigkeit. Er hat keinerlei Charisma, ist ein miserabler Redner und verfügt nicht über die Fähigkeit des kritisch-intellektuellen Denkens." Ein deutliches Urteil von einem, der sich deutliche Worte leisten konnte. Der Osteuropa-Experte Wolfgang Leonhard musste im Herbst 1989 keine Rücksichten nehmen, wie etwa führende bundesdeutsche Politiker. Der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel kommentierte die Wahl von Egon Krenz (SED) zum Staatsratsvorsitzenden und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR skeptisch, aber vorsichtig verhalten: "Ich bin dafür, dass man Krenz eine Chance lässt." Er sprach von "bemerkenswerten Akzenten", die der Nachfolger Erich Honeckers gesetzt hätte. Auch Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) konnten sich ein offen ablehnendes Urteil aus taktischen Gründen nicht erlauben.

Im Vergleich zu allem, was die politische Kultur der DDR prägte, erschien die Rede von Egon Krenz vor der Volkskammer am 24. Oktober 1989 in der Tat bemerkenswert. Kurz vorher war er von den Abgeordneten in offener Abstimmung gewählt worden, aber, genauso bemerkenswert, nicht einstimmig. 26 Parlamentarier stimmten gegen ihn und weitere 26 enthielten sich der Stimme. In der 40-jährigen Geschichte des DDR-Parlaments hat es Gegenstimmen und Enthaltungen bei Personalwahlen noch nie und bei Gesetzesbeschlüssen nur ein einziges Mal gegeben: bei der Entscheidung über eine Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch 1972. Damals votierten 18 Mitglieder der CDU-Fraktion dagegen und acht mit Enthaltungen.

Egon Krenz stand unter enormen Erwartungsdruck. Die Mehrheit der Menschen in der DDR traute ihm den nötigen Reformwillen nicht zu, galt er doch als politischer Ziehsohn Honeckers. Zum Ausdruck kam die Skepsis in den Parolen der Demonstranten, die jeden Montag durch die Straßen des Landes zogen: "Demokratie unbekrenzt", "keine Lizenz für Egon Krenz" oder "keinen Egonismus" hieß es da.

Zwar nicht auf diese Parolen, wohl aber auf die Massenproteste ging Krenz in der Rede nach seiner Wahl ein: "Die Demonstrationen mögen ihre Funktion gehabt haben. Aber unsere Gesellschaft, und da schließe ich alle ihre Mitglieder ein, braucht heute weniger die Konfrontation ihrer Bürger, sondern mehr denn je den sachlichen Dialog über gegensätzliche Ideen und Meinungen." An dem Machtanspruch der SED rüttelte er jedoch nicht. Es waren Zugeständnisse innerhalb dieses Rahmens, dessen Koordinaten nicht verändert werden sollten. An die Adresse des Westens gerichtet, betonte Krenz deshalb: "NATO-Konzeptionen und Ratschläge, die den Sozialismus wegreformieren wollen, haben auch künftig keine Chance."

Für dieses Zukunftsprojekt brauchte das Land eine breite Mehrheit in der Bevölkerung, das wusste Krenz: "Jeder, der uns verlässt, ist einer zuviel." Appelle allein reichten in einer Situation, in der das Land auf äußerst wackligen Füßen stand, jedoch nicht aus. Es ging in seiner Rede auch deshalb um Zugeständnisse und Verantwortung. So bezeichnete er die Polizeieinsätze bei einigen Protestkundgebungen als "zu bedauern" und sicherte den Betroffenen eine rechtliche Aufklärung zu. Er stellte, allerdings sehr vage, Reiseerleichertungen in Aussicht. Immer wieder betonte er den Grundsatz der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Indirekt sprach der 52-Jährige auch die manipulierten Kommunalwahlen vom Mai 1989 an, indem er ein neues Wahlgesetz nicht ausschloss: Bis zu den Parlamentswahlen 1991 seien alle Erfahrungen aus früheren Wahlen sowie dagegen erhobene Einwände zu prüfen und gegebenenfalls zu ändern, sagte Krenz.

Euphorische Reaktionen lösten diese Äußerungen bei niemandem aus, wohl aber die Hoffnung, dass ein einmal beschrittener Weg der Öffnung nicht mehr rückgängig gemacht werden könne. Wie und mit welchem Personal, das war eine andere Frage, und es zeigte sich bald, dass Krenz nicht in der Lage war, die DDR zu beruhigen. Ein radikaler Personalwechsel war nötig und vollzog sich, insbesondere nach der Maueröffnung im November 1989, in schnellen Schritten. Unter dem Druck der Massenproteste trat Egon Krenz nach nur fünf Wochen am 3. Dezember als Generalsekretär der SED und am 6. Dezember auch vom Vorsitz des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates zurück.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.