Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 43 / 18.10.2004
Klaus von Beyme

Nur eine Nachbildung mit beschränkten Rechten

Ein starker Präsident ist noch lange kein Monarch
Kein demokratisches System der Welt konzipiert einen Präsidenten als Alleinherrscher. Wo immer ein volksgewählter Präsident von der Verfassung vorgesehen war - erstmals in der zweiten französischen Republik 1848 bis 1851 - war er im Grunde die vom Volk gewählte Nachbildung eines konstitutionellen Monarchen. Die Verfassungsväter der fünften französischen Republik orientierten sich sogar explizit am "Orléanismus". Louis Philippe von Orléans kam 1830 unter der parlamentarischen Losung ins Amt: "Der König regiert, aber herrscht nicht". Er war in seiner Machtausübung an parlamentarische Mehrheiten gebunden.

Selbst eine Minderheit der amerikanischen Verfassungsväter (Verfassungsmütter gab es damals noch nicht) haben sich an dieser Konzeption orientiert. Sie glaubten aber noch an eine strikte Gewaltenteilung, die sie in falsch verstandener Montesquieu-Lektüre dem britischen System zuschrieben. Aber auch die Mehrheit der Verfassungsväter hatte in den USA ursprünglich einen stärkeren Kongress geplant. Der Präsident wuchs in Wellen durch die amerikanische imperiale Politik in eine immer stärkere Rolle. Der Versuch, den Präsidenten durch den Kongress wieder stärker an die Leine zu legen, der meist nach Kriegen unternommen wurde, hatte keine nachhaltige Wirkung. Gleichwohl: es blieb beim präsidentiellen System. Versuche, das System durch Amendments zur Verfassung zu ändern, fand keine Mehrheit.

Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hat kein Auflösungsrecht gegenüber dem Parlament, das Parlament kann nicht durch Misstrauensvoten die Regierung des Präsidenten oder gar diesen selbst aus dem Amt entfernen. Im voll-präsidentiellen System der USA gibt es nur die Möglichkeit, den Präsidenten durch eine Präsidentenanklage (impeachment) aus dem Amt zu entfernen. Die Vorbereitungen dazu in den Fällen Richard Nixon (nach der Watergate-Affäre zu Beginn der 1970er-Jahre) und Bill Clinton (nach der Affäre um die Praktikantin Monika Lewinsky Mitte der 90er-Jahre) sind uns noch in unliebsamer Erinnerung. Der Einbau eines parlamentarischen Vertrauensmechanismus gegenüber dem Präsidenten in einem semi-präsidentiellen System scheint damit verglichen die elegantere Lösung.

Das Vorbild Amerikas mit einem präsidentiellen System wurde in der Ära der Transformationen immer wieder erwogen - auch in Russland. Was in Europa in der zweiten (nach 1945) und dritten Welle (nach 1989) an Systemen mit starker Stellung eines volksgewählten Präsidenten entstand, blieb jedoch nach dem Willen der Verfassungsväter- und -mütter immer eine Variante des parlamentarischen Systems. Der volksgewählte Präsident stand einem Parlament gegenüber, das Misstrauensvoten gegen seine Regierung lancieren konnte.

Seit einem Buch des französischen Politikwissenschaftlers Maurice Duverger hat sich der Ausdruck "semi-präsidentielles System" eingebürgert. Nach der Verfassung bleibt es halb-präsidentiell, obwohl der Präsident - im Gegensatz zum amerikanischen Präsidenten - das Parlament im Konfliktfall unter erschwerten Bedingungen auflösen kann. Der amerikanische Präsident steht nach den "mid term elections" in der Regel einer feindlichen Kongress-Mehrheit gegenüber und muss sich die Mehrheiten für seine Gesetze in einem nicht so festgefügten Parteiensystem jeweils zusammensuchen. Im semi-präsidentiellen System ist die "cohabitation" - wie die Franzosen die Konfrontation der Exponenten zweier feindlicher Mehrheiten nennen - schwieriger.

Je länger die Amtszeit eines Präsidenten im semi-präsidentiellen System dauert, umso wahrscheinlicher treten Kohabitations-Konflikte auf. In Frankreich ereignete sich der Fall in der nach-gaullistischen Ära erstmals 1986, als der sozialistische Präsident Francois Mitterand mit einer feindlichen gaullistischen Mehrheit um (den heutigen Präsidenten) Jaques Chirac konfrontiert wurde. Die Reservatrechte des Präsidenten - die noch dem des konstitutionellen Monarchen nachgebildet sind - waren stark in der Außenpolitik. Präsident und Premierminister stritten vor einer Moskauer Konferenz öffentlich darum, wer Frankreich vertreten dürfe. Schließlich flogen beide - in getrennten Flugzeugen - zum Konferenzort. Diese Form des Konflikts war in Russland unter Boris Jelzin und ist heute unter Wladimir Putin undenkbar. Die Ministerpräsidenten waren in der Regel "Kreaturen" des Präsidenten. Nur der ehemalige Gewerkschaftschef Lech Walesa hat in Polen ähnliches versucht. Der Sejm hat daher die Rechte des Präsidenten beschnitten und heute funktioniert das System unter Kwasniewski ziemlich wie ein normales parlamentarisches System.

Das semi-präsidentielle System ist dualistisch angelegt und funktioniert auch so in Ländern, die eine traditionelle parteienstaatliche und parlamentarische Kultur kennen, wie Frankreich. In Westeuropa gibt es semi-präsidentielle Systeme von Finnland bis Portugal. Ein besonders schwacher vom Volk gewählter Präsident existiert in Österreich. Da die beiden großen Parteien eine hegemoniale Stellung besitzen und sich notfalls gegen den Präsidenten einigen, kann die Parlamentsmehrheit ihn leicht in die Schranken weisen.

Nur in Systemen der Transformationsperiode, in denen keine klaren Parteienstrukturen entstanden und wo ein volksgewählter Präsident als Exponent des Regimewechsels ein überwältigendes Prestige besaß, wie Jelzin nach Gorbatschow in Russland und Walesa nach dem Ende des Kommunismus in Polen, blieb die dualistische Balance von Exekutive und Legislative gestört. Frankreich hat als Modell in den Transformationsprozessen Osteuropas vielfach Pate gestanden - mit originellen Mischungen von Anleihen beim deutschen System (etwa hinsichtlich der Verfassungsgerichtsbarkeit). Aber kopierte Institutionen wirken unter anderen sozialen Bedingungen nicht wie in ihren Ursprungsländern. Das lag schon allein daran, dass die Parlamente - vielleicht mit der Ausnahme Ungarns - keine Vorreiterrolle bei der Transformation spielten. Ihre Stärkung im Vergleich zum alten kommunistischen Regime war eher das Produkt als die Ursache der Innovation.

Selbst bei den älteren semi-präsidentiellen Systemen in Europa von der 2. französischen Republik bis zur Weimarer Republik oder Finnland hatte es gewisse parlamentarische Vorerfahrungen unter der Monarchie gegeben. Diese hat im Kommunismus weitgehend gefehlt, weil Parlamente dort reine Akklamationsinstrumente waren, ohne Kontrollfunktion und mit spärlicher Sitzungsdauer. Es zeigte sich, dass die im Westen geistig "geborgten" Institutionen im östlichen Kontext anders wirkten. Das Parteiensystem war die entscheidende Variable. In Polen war es extrem fragmentiert, bis man die Eintrittsschwelle für Gruppen angehoben hat. Die Parteien bildeten sich um einzelne Persönlichkeiten. Für Lateinamerika wurde einmal der treffende Satz geprägt: "every ism is a somebody-ism". Es fehlte an einer Infrastruktur der Mitgliedschaft und an einer kohärenten Ideologie. Die Parteiprogramme glichen - mit Ausnahme der Postkommunisten und der Rechtsextremisten - wie ein Ei dem anderen. Die Präsidenten konnten, wie einst Walesa in Polen, Jelzin und Putin in Russland, die parlamentarischen Gruppierungen gegeneinander ausspielen. Manchmal hatten sie nicht einmal eine eigene starke Partei hinter sich wie Walesa und Jelzin. Erst Putin hat in Russland versucht, seine eigene Mehrheitspartei in der Duma effektiv zu organisieren.

Alleinherrscher nicht vorgesehen

Einige Theoretiker, wie Juan Linz, haben dem semi-präsidentiellen System generell die Fähigkeit abgesprochen, voll demokratisch zu werden. Diese These stützte sich allzu sehr auf lateinamerikanische Erfahrungen und war selbst in der westlichen Hemisphäre nicht immer richtig. In einigen Ländern wie in Litauen, Mazedonien oder Moldava wurden auch von semi-präsidentiellen Systemen Wirkungen einer Konsolidierung der Demokratie erbracht.

Alleinherrschaft ist in keinem der dualistischen semi-präsidentiellen Systeme vorgesehen. Selbst in Weißrussland hat Präsident Lukaschenka die Verfassung noch nicht gänzlich aushöhlen können. Quasi "Alleinherrscher" sind die Präsidenten nur in Systemen geworden, die als "defekte Demokratien" bezeichnet werden müssen (Wolfgang Merkel). In ihnen sind die Wahlen frei, wenn auch - im Hinblick auf den Medien-Zugang der Parteien - nicht immer "fair". Aber es fehlt an der rechtsstaatlichen Seite der Demokratie und am Respekt gegenüber den Menschenrechten. In Russland wird dies zunehmend in Tschetschenien sichtbar. Krasse Beispiele liegen in Weißrussland und in der Ukraine vor. Die Gegengewichte im russischen System stellten weniger die verfassungsmäßigen Institutionen wie Parlament und Rechtssprechung dar, als die wirtschaftliche Macht der "Oligarchen", die das Regime mit Korruption durchsetzten. Putin hat sich nach und nach dieser lästigen Konkurrenz entledigt. Das war nötig, aber der Erfolg wurde mit einem hohen Preis erkauft. Vor allem die freien Medien blieben auf der Strecke. Je länger Putin regiert, umso mehr entwickelt sich sein System in die Richtung umfassender Kompetenz und verlässt den Pfad der "konsolidierten Demokratie". Der russische Präsident ist - außer in Tschetschenien - gleichwohl immer wieder zur Mäßigung in der Ausübung seiner Macht angehalten worden. Dies geschieht weniger durch innenpolitische Gegengewichte als durch Russlands Drang im Konzert der Groß- und Mittelmächte und in den internationalen Institutionen eine Rolle zu spielen. Der Terrorismus hat zwar die russische Gesellschaft nicht wirklich geeint. Aber paradoxer Weise moderiert die internationale Solidarität gegen den Terrorismus auch den russischen Präsidenten in der Ausübung seiner Macht.

Klaus von Beyme ist Professor emeritus am Institut für politische Wissenschaft an der Universität in Heidelberg.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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