Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 45 / 01.11.2004
Norbert Mappes-Niediek

Wahlen zum Klassensprecher?

Neues Parlament im Kosovo

Wer ist der beste Klassensprecher? Der am lautesten gegen Ungerechtigkeiten protestiert? Oder der am besten mit den Lehrern kann? Die Antwort fällt unter Millionen Schülern auf der Welt vor allem nach dem Herrschaftsstil der Lehrpersonen. Wo es autoritär zugeht, muss der Sprecher brav, aber stur sein. Nach diesen ewigen Regeln haben die Kosovaren am 23. Oktober eine rationale Wahl getroffen. Ihr Präsident, Ibrahim Rugova, ist milde im Ton, aber in der Sache unbeugsam. Im Kontakt mit dem internationalen Verwalter, der im Kosovo über unbeschränkte Macht verfügt, tritt er verbindlich auf. Er kann gleichzeitig auf etliche aggressive Schreihälse verweisen, die ihm im Nacken sitzen und deren Interessen er zu vertreten hat. Die Kosovo-Albaner regieren sich nicht selbst und wissen das auch. Ihre Organe dienen der Appellation an eine fremde Macht. Ihr Job ist das Fordern, nicht das Entscheiden. Flexibilität ist da nur Schwäche. Verantwortung ist möglichst abzuweisen.

Die zweite Parlamentswahl im Kosovo hat an den Mehrheiten so gut wie nichts geändert. Wundern kann sich darüber nur, wer sich über die Funktion und das Image der Politiker des Landes Illusionen macht. Die katastrophalen Verhältnisse: Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Stillstand, das Fehlen jeder politischen Perspektive, haben die Wähler zu Recht nicht der "regierenden" Liga von Ibrahim Rugova angelastet. Nicht sie hat die Macht. Die Korruption, die Rugovas LDK im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten entfaltet, haben sie ihr verziehen. Die Konstellation verträgt keine Veränderungen. Die beiden Nachfolgeparteien der "Befreiungsarmee" UCK verfügen über ein festes, aber auch begrenztes Lager von Wählern.

Besonders die PDK des Hashim Thaci hat sich vor dieser Wahl angestrengt, aus dem Turm auszubrechen und flexible, moderne und westkompatible Persönlichkeiten an sich zu binden. Es ist ihr nicht gelungen; die Wähler wollen sie nicht als Regierungspartei, sondern als Vogelscheuche. Der liberale Verleger Veton Surroi schließlich, der erstmals mit einer "Bürgerliste" antrat, ist zu früh gesprungen. Einer wie Surroi wird gebraucht, wenn das Kosovo eines Tages regiert werden soll. So weit ist es noch nicht.

Ein Klassensprecher ist nicht dazu da, den Job des Lehrers zu machen. Im nächsten Jahr aber soll nun die wiedergewählte politische Führung der Kosovo-Albaner mit der Regierung in Belgrad und den Vereinten Nationen über den künftigen Status der Provinz verhandeln. Dazu ist sie virtuell unfähig.

Mantra der Unabhängigkeit

Rugovas Stärke liegt darin, dass er seit inzwischen 15 Jahren unablässig das Mantra von der Unabhängigkeit des Kosovo wiederholt hat, auch in völlig verzweifelten Situationen und selbst dann, als es beinahe lächerlich klang. Der Präsident, der seit Jahren nur noch als Symbol Wirkung entfaltet, kann bei Strafe des Untergangs nicht plötzlich originelle Ideen und neue Perspektiven entwickeln. In seiner Partei, die ganz von seinem Nimbus lebt, kann das vollends niemand. Als stärkste Kraft aber hält die LDK die anderen, kleineren Parteien in Geiselhaft: Solange sie nicht nachgibt, wird jeder Kompromiss, den eine andere Fraktion auch nur andeutet, als Verrat gewertet. Allein Surroi mit seiner Bürgerliste kann diesen Vorwurf ignorieren und unbefangen mit Belgrad verhandeln. Aber dazu gehören zwei, und auch in Belgrad herrscht das fatale Gesetz, dass verloren hat, wer sich zuerst bewegt. Der dortige Rugova heißt Vojislav Kostunica, ist Premierminister und hat mit seinem Boykottaufruf für die Wahl vom letzten Samstag klar gemacht, dass er für das Kosovo ebenfalls nur Forderungen stellen, aber keine Lösungen präsentieren wird.

Lösen müssen das Problem des Kosovo die Vereinten Nationen - gegen den Willen beider Beteiligten, der Albaner wie der Serben. Das ist der Fluch jeder Protektoratsmacht: Ihr ehrliches Bestreben, sich überflüssig zu machen, wird immer nur frustriert, und am Ende ist sie immer für alle Seiten der Böse. Demokratie ist ein Prinzip, kein Lernziel. Je schneller der Weltsicherheitsrat entscheidet, desto besser. Je länger er wartet, desto härter werden die Positionen auf beiden Seiten.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.