Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 45 / 01.11.2004
Detlev Lücke

EU-Beitritt der Türkei umstritten

Heftige Debatte im Bundestag zwischen Koalition und Opposition

Die Fronten um eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union bleiben verhärtet. Während in der Bundestagsdebatte vom

28. Oktober die Bundesregierung wie die Fraktionen von SPD und Grünen ein EU-Votum zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Ankara unterstützten, lehnten Abgeordnete von CDU und CSU eine Vollmitgliedschaft der Türkei entschieden ab. Sie empfahlen statt dessen eine "priviligierte Partnerschaft" der EU mit dem NATO-Partner am Bosporus. Die Staats- und Regierungschef der Europäischen Union werden am 17. Dezember diesen Jahres über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei entscheiden.

Wolfgang Schäuble, stellvertretender CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender, verwies darauf, dass sich die europäische Einigung in einer schwierigen Phase befinde. Sie sei aber auf die Zustimmung der Bevölkerung angewiesen. "Sie machen einen schweren Fehler, wenn Sie die Erweiterung gegen die Vertiefung der EU austauschen." Für Länder wie die Türkei oder Russland, die nur zum Teil zum europäischen Kontinent gehörten, müssten andere Formen der Partnerschaft gefunden werden.

Außenminister Joseph Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) hielt dem entgegen, dass es "keinen Automatismus" in Richtung türkischer EU-Mitgliedschaft geben werde. Die Beitrittsperspektive schaffe aber einen "permanenten Druck" zur Transformation des Landes in Richtung EU. Fischer warf der Union einen Kurswechsel in der Türkeifrage vor. Unter der Regierung Kohl sei der EU-Beitritt des Landes nicht in Zweifel gezogen worden. Ein Nein zur Türkei sei "extrem kurzsichtig und gegen die Sicherheitsinteressen unseres Landes und Europas gerichtet".

Auch der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Gernot Erler unterstützte nachdrücklich den Kurs von Bundeskanzler Gerhard Schröder, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Nötig sei es dabei, den laufenden Demokratisierungsprozess in der Türkei unumkehrbar zu machen. Ein EU-Beitritt könne zudem den Beweis erbringen, dass Islam und westliche Werte durchaus vereinbar seien.

Die Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Claudia Roth bezeichnete das Unionsangebot der priviligierten Partnerschaft als "eine Hülse". "Sie ist Stillstand und sie ist Festschreibung des Status Quo." Sie attackierte die Haltung der CDU/CSU scharf, die 40 Jahre lang der Türkei einen Weg in die EU versprochen habe. Roth wie auch Fischer hatten ausführlich aus einer früheren Erklärung des stellvertretenden Unionsfraktionsvorsitzenden Michael Glos zitiert, die auf eine EU-Mitgliedschaft der Türkei abzielte.

Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle forderte ergebnisoffene Verhandlungen mit der Türkei. Er kritisierte, dass sich die Bundesregierung positiv und die Unionsparteien negativ vorfestgelegt hätten. Es gehe schließlich um eine Entscheidung über Beitrittsverhandlungen und nicht über einen Beitritt. Niemand sei heute in der Lage, seriös vorauszusagen, wie die Türkei in 15 Jahren aussehen werde oder die Europäische Union. Gerd Müller (CDU/CSU) betonte, dass ein EU-Beitritt des Landes sowohl die Türkei wie auch Europa überfordern würde. Er hob hervor, dass auch prominente Sozialdemokraten wie Helmut Schmidt und Egon Bahr dem Projekt skeptisch bis ablehnend gegenüberstünden. Angelica Schwall-Düren (SPD) warnte davor, die Risiken eines Beitritts überzubetonen und die Chancen zu vergessen. Die Haltung der CDU/CSU sei "widersprüchlich, populistisch, unverantwortlich." Die fraktionslose Abgeordnete Petra Pau konstatierte erleichtert, dass die Union wenigstens die Unterschriftenaktion gegen den EU-Beitritt der Türkei fallengelassen habe. Peter Hintze (CDU/CSU-Fraktion) machte darauf aufmerksam, dass zum ersten Mal ein Staat EU-Mitglied werden wolle, der mit seinen Truppen einen Teil eines anderen EU-Staates (Zypern) besetzt halte.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.