Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 49 / 29.11.2004

Der Schlüssel für den Türkei-Beitritt liegt in Straßburg

Interview mit Josep Borrell, Präsident des Europäischen Parlaments
Der 57-jährige Josep Borrell aus Spanien ist nach der Europawahl im Juli für zweieinhalb Jahre zum neuen Präsidenten des Europäischen Parlaments gewählt worden. Der Sozialdemokrat erhielt die Parlamentsmehrheit auf Grund einer Absprache mit den Christdemokraten (EVP), die ihrerseits den Präsidenten in der zweiten Hälfte der Wahlperiode stellen wollen. Zu den Herausforderungen, denen sich das Parlament aktuell gegenübersieht, gehören die Europäische Verfassung in der erweiterten Union, die Wahl und die Zusammenarbeit mit der neuen Kommission. Dazu stellte sich der Katalane den Fragen unserer Zeitung.

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Herr Präsident, das Europäische Parlament hat die neue Barroso-Kommission im zweiten Anlauf bestätigt. Ein Sieg für das Parlament, eine Schwächung für die Kommission?

Borrell: Ich habe mich immer geweigert, in dieser Prozedur der Investitur eine Niederlage des einen und einen Sieg des anderen zu sehen. Europa braucht eine starke Kommission und ein glaubwürdiges Parlament. Für mich hat das Verfahren zur Einsetzung der Barroso-Kommission vor allem den Beweis erbracht, dass das Europäische Parlament seine demokratische Reife erreicht hat. Es ist frappierent festzustellen, dass die Abgeordneten es verstanden haben, den Telefonaten der Regierungen zu widerstehen. Diese Periode ist jetzt endgültig abgeschlossen. Ich freue mich darüber. Die Debatten haben in diesem Zusammenhang intensiv zu den gesellschaftlichen Herausforderungen Stellung bezogen, nämlich zur herausragenden Frage der Asyl- und Einwanderungspolitik, der Rolle der Frauen in der Familie und im Arbeitsleben, zur Nicht-Diskriminierung der Menschen im Zusammenhang mit ihren sexuellen Präferenzen, zur Beziehung zwischen Ethik und Politik. Das Europaparlament hat niemals jemanden aufgrund seiner Überzeugungen diskriminiert. Folgerichtig kann ich versichern, dass die Anhörungen einen der größten Momente in der parlamentarischen europäischen Demokratie darstellten. Erinnern Sie sich daran, dass man die Anhörungen als eine einfache Formalität ansah, das Europäische Parlament als Papiertiger? Damit ist es vorbei. Das Parlament bleibt in der öffentlichen Meinung in Erinnerung. Und die Regierungen haben ihm zugehört.

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Ein Thema, das die Öffentlichkeit zurzeit sehr stark bewegt, ist der EU-Beitritt der Türkei. Straßburg will noch vor dem entscheidenden Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs im Dezember seine Stellungnahme zur Aufnahme von Verhandlungen abgeben. Welche Empfehlung erwarten Sie?

Borrell: In unserer Versammlung sind die gleichen Klüfte festzustellen, wie sie sich zwischen den Mitgliedstaaten auftun. Daher ist das Abstimmungsergebnis schwer vorherzusagen. Im Parlament ist jede große politische Familie gespalten in Verfechter des Ja und des Nein. Diese Debatte berührt die Fundamente der Europäischen Union. Dabei müssen wir in Zukunft alle unsere Konzepte überprüfen, ob politischer, wirtschaftlicher, sozialer, geographischer oder demographischer Art und last but not least die kulturellen.

Es ist nicht selbstverständlich, dass das Europaparlament die gleiche Position einnimmt wie die Mitgliedsstaaten. Seine Beschlüsse sind weniger diplomatisch, sondern politischer. Vergessen Sie nicht, dass es das Parlament ist, das den Schlüssel zur Aufnahme der Türkei in der Hand hat. Wenn die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden sein sollten in etwa einem Jahrzehnt, ist es an ihm, Ja oder Nein zu sagen. Deshalb ist es auch wichtig, dass es von Beginn an sehr eng an den Verhandlungen beteiligt ist, falls diese starten.

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Eines der wichtigsten Dossiers im kommenden Halbjahr ist die Finanzausstattung der EU für die Zeit 2007 bis 2013. Unterstützt das Parlament den Kommissionsvorschlag oder die Position der Nettozahler?

Borrell: Wenn der ab Januar kommende Luxemburger EU-Vorsitz dieses Dossier nicht meistert, wer dann? In der Tat ist er bei diesem Dossier neutral. Bei der ab Juli 2005 nachfolgenden britischen Präsidentschaft kann man dies nicht voraussetzen. Ziel des Parlaments ist es, einen Kompromiss zwischen dem Vorschlag der Kommission, den Plafond auf 1,14 Prozent gemessen am Bruttoinlandprodukt zu begrenzen, und der Position der Nettozahler Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Niederlande, Schweden und Österreich zu finden, die den europäischen Haushalt bei ein Prozent zu begrenzen wünschen. Man kann die Sorge um die Haushaltsdisziplin der Nettozahler verstehen.

Auf der anderen Seite besteht ein Risiko, die Flügel der Erweiterung zu kappen und damit die Entwicklung der Union. Die neuen Länder müssen an den Politiken der Solidarität beteiligt werden und aus der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion der EU Nutzen ziehen. Als Spanier bin ich in dieser Frage sehr sensibel. Es ist an der Zeit, den anderen zu helfen. Ich stelle gleichzeitig fest, dass die Europäer in allen Meinungsumfragen wünschen, dass die europäische Forschungs-, Erziehungs- und Umweltpolitik usw. ausgebaut wird. Es handelt sich um ein Thema, das die Finalität der EU berührt. Deshalb werde ich mit dem Haushaltausschuss eng in dieser Frage zusammenarbeiten.

Unsere Arbeiten werden bis zum kommenden Frühjahr dauern, und ich kann unsere endgültige Haltung nicht vorhersagen. Ich bitte auch zu überlegen, wie das von allen Mitgliedstatten festgelegte Ziel, die EU bis 2010 zur wettbewerbsfähigsten Wirtschaft der Welt zu machen, mit nur ein Prozent des Sozialprodukts erreicht werden soll.

Erlauben Sie mir noch den Hinweis, dass sich das EU-Budget im Zeitraum 1999 bis 2002 um acht Prozent erhöht hat, das der 15 bisherigen Mitgliedstaaten jedoch um 23 Prozent!

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Der Stabilitätspakt wird auch ein Thema der Luxemburger Präsidentschaft sein. Er soll "flexibler" angewandt werden. Wie ist das zu verstehen?

Borrell: Ebenso wie Premierminister Juncker, den ich seit langem kenne und schätze, denke ich persönlich, dass man die Auslegung der Drei-Prozent-Haushaltsverschuldungs-Regelung flexibilisieren muss. Die Kommission hat einen Vorschlag gemacht, das Europäische Parlament hatte eine erste Orientierungsdebatte. Diese Drei-Prozent-Barriere - wenn sie nicht angetastet werden soll - muss Gegenstand einer Anpassung an die spezifischen Umstände sein, die innerhalb der Staaten auftauchen können. Was machen wir im Falle einer Wirtschaftskrise? Auf welche Weise profitiert man vom wirtschaftlichen Wachstum? Wie reagieren wir auf die Schwankungen der Weltwirtschaft? Auf all diese Fragen muss die EU in den kommenden Monaten antworten. Im Parlament gibt es ebenso wie im Rat jene, die bei der Nachgiebigkeit weiter gehen wollen als die Kommission und jene, die für eine strikte Auslegung des Paktes eintreten. Die Debatte wird besonders leidenschaftlich werden.

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Was erwarten Sie hinsichtlich der Agenda von Lissabon?

Borrell: Erst einmal wünsche ich mir eine Umbenennung. Unsere Ziele müssen für die Öffentlichkeit verständlicher werden. Ich teile die Absicht von Herrn Juncker, dass eine der Prioritäten der luxemburgischen Präsidentschaft die Rückkehr zum europäischen Sozialmodell sein muss, zugänglich für jeden. Ich glaube, dass wir den Akzent auf den sozialen Aspekt legen müssen. Ich hoffe, dass der Wim-Kok-Bericht über Wachstum und Beschäftigung im Rahmen der Strategie von Lissabon kein toter Buchstabe bleibt. Unser Parlament wird sich vor dem nächsten Frühjahrsgipfel, auf dem die Halbzeitbilanz dessen durchgeführt wird, was ich "die Strategie für Wettbewerbsfähigkeit, Kohäsion und Umwelt" taufen möchte, dazu äußern. Meiner Ansicht nach müssen unsere nationalen Strategien europäisiert werden. Gefragt sind hier die Mitgliedstaaten. Die EU muss den europäischen Mehrwert bilden. Nehmen wir das Beispiel Forschungspolitik. Ohne eine gemeinsame Politik ist die weitere Abwanderung geistiger Kapazitäten zu befürchten.

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Unter Ihrem Vorsitz soll ein neuer Anlauf zum Abgeordnetenstatut unternommen werden. Esgab bereits Vorgespräche mit dem Luxemburger Vorsitz. Zeichnet sich eine Lösung ab?

Borrell: Ich habe mit Luxemburgs Europaminister Nicolas Schmit am 22. Oktober gesprochen, der mir bestätigt hat, dass er eine Lösung unter luxemburgischem Vorsitz wünscht. Ich weiß, dass Premierminister Jean-Claude Juncker im September erklärt hat, dass er keine Einwände gegenüber den Parlamentsvorschlägen vom vergangenen Jahr hat. Für das Europaparlament ist es wesentlich, dass die Abgeordneten ihre Arbeit unter den gleichen Bedingungen der Transparenz, der Würde und Effizienz nachgehen können. Gleiche Diäten für gleiche Arbeit. Am 8. September habe ich Jan-Peter Balkenende, den amtierenden niederländischen Ratspräsidenten getroffen, und ihn daran erinnert, dass das Europäische Parlament noch immer auf eine Antwort des Rats auf seine Entschließungen von Dezember 2003 und Januar 2004 wartet. Nach langen Arbeiten hatte das vorangegangene Parlament einen Kompromiss geschmiedet, das eine angemessene Diätenregelung enthält und eine totale Transparenz der anderen Entschädigungen. Bis dato kennen wir die Gründe nicht, weshalb mehrere Mitgliedstaaten unsere Vorschläge nicht unterstützt haben. In diesem Punkt setze ich große Hoffnungen auf den Luxemburger Vorsitz.

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Weshalb ist das Europaparlament nicht schon mit gutem Beispiel vorangegangen und hat die Europäische Verfassung ratifiziert?

Borrell: Ich hätte es gern gehabt, dass wir die ersten gewesen wären, die sich ausgedrückt haben. Dieses Votum wäre so etwas wie eine Referenz gewesen. Aber Sie wissen, dass das Europäische Parlament im Juni neu gewählt wurde. Unsere konstituierende Sitzung haben wir Ende Juli abgehalten. Die eigentliche parlamentarische Arbeit hat Anfang September begonnen. In Kürze wird sich unser konstitutioneller Ausschuss äußern. Das Parlament wird es im Dezember tun. Ohne die Abstimmung vorweg nehmen zu wollen, gehe ich davon aus, dass sich eine sehr große Mehrheit für die Texte des Verfassungsvertrags aussprechen wird. Das Parlament wird sich auch an der breiten Debatte in den Ländern beteiligen, die den Weg einer Volksabstimmung gewählt haben. Persönlich und als ehemaliges Mitglied des Konvents, der diesen Vertrag erarbei-tet hat, engagiere ich mich für ein Ja. Diese Verfassung bringt uns mehr Demokratie, mehr Effizienz, mehr Legitimität. Ihre Vorteile sind wichtig gegenüber den bestehenden Verträgen. Allerdings wissen wir auch, dass es sich nicht um einen perfekten Text handelt, insbesondere auf dem sozialen und fiskalischen Gebiet.

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Werden die Rechte des Europaparlaments nach Inkrafttreten der Verfassung endgültig vergleichbar mit denen nationaler Parlamente sein?

Borrell: Ich denke nicht, dass wir uns hier in Vergleichsbegriffen bewegen sollten. Wie Sie wissen, stärkt die Verfassung die Befugnisse des Europäischen Parlaments, indem sie es zum fast gleichberechtigten Gesetzgeber macht. Sie stärkt gleichzeitig die nationalen Parlamente, indem diese in den legislativen Prozess einbezogen werden. Ich bin mir des demokrati-schen Defizits in Europa bewusst. Es ist wahr, dass die nationalen Parlamente bis heute nur eine marginale Rolle in der europäischen Debatte spielen. Es ist daher wichtig, dass wir enger mit ihnen zusammenarbeiten. Diese Aufgabe ist einfach überfällig.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.