Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 50-51 / 06.12.2004
Enrico Syring

Leiden eines "Stereotyps"

Hanns-Martin Schleyer

Der "deutsche Herbst" des Jahres 1977 wird allen, die ihn noch bewusst miterlebt haben, wohl immer im Gedächtnis bleiben. Es waren hochdramatische Wochen. Die Kaperung der mit Urlaubern besetzen Lufthansamaschine "Landshut", die Ermordung ihres Flugkapitäns Jürgen Schuhmann, ihre gewaltsame Befreiung sowie die Entführung und schließliche Ermordung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer markieren die bis dahin tiefste Krise der Bundesrepublik. Kein Wunder, dass sich auch die Medien des Themas in vielfältiger Weise angenommen haben; erinnert sei nur an den erschütternden Dokumentarspielfilm "Das Todesspiel".

Genau in diesem vergleichsweise großen Medieninteresse liegt einer der Anknüpfungspunkte des Dortmunder Journalistikwissenschaftlers, Publizisten und Zeithistorikers Lutz Hachmeister. Zu Recht betont er, die Person wie die Lebensgeschichte Hanns-Martin Schleyers bleibe in all diesen Produktionen blass und eindimensional. Schleyers gesamte Biografie werde nur noch auf seinen gewaltsamen Tod reduziert. Über alles, was in den mehr als sechs Jahrzehnten vor diesem Mord liege, seien noch immer die wildesten Gerüchte im Umlauf.

Hanns Martin Schleyer wurde am 1. Mai 1915 als Sohn eines Richters in Offenburg geboren. Seine Vorfahren waren Theologen, Juristen und vor allem Lehrer. Im Frühjahr 1933 legte er in Rastatt das Abitur ab. Schon in den Jahren davor war er einer ortsansässigen Schülerverbindung beigetreten und bereits im März 1931 schloss sich der damals 15-jährige der Hitlerjugend an. Offenbar haben ihn die von den Nationalsozialisten propagierten Ideen einer patriarchalisch geführten "Volksgemeinschaft" angesprochen. Und wie es scheint, blieb Schleyer bis zu seiner Ermordung - privat und beruflich - zutiefst von ihnen durchdrungen und geprägt.

Im Wintersemester 1933/34 nahm er ein freilich weitgehend wohl nur auf dem Papier stattfindendes Jurastudium in Heidelberg auf. Neben seiner schlagenden Verbindung verbrachte er seine Zeit vor allem damit, als NS-Studentenführer die "nationalsozialistische Hochschulrevolution" zu betreiben. Seinen Mitstreitern aus dieser Zeit hielt er zeitlebens die Treue.

Zudem unterhielt die SS, zumal der SD, besonders guten Kontakt zur Heidelberger Dozenten- und Studentenschaft. Schleyer war bereits im Frühsommer 1933, also noch vor Aufnahme seines Studiums, der SS beigetreten. Er stieg innerhalb dieses schwarzen Ordens in den Folgejahren bis zum Untersturmführer (= Leutnant) auf. Doch ob beziehungsweise inwieweit er dem SD Zuträgerdienste geleistet hat, lässt Hachmeister offen. Jedenfalls aber wechselte Schleyer im Mai 1938 an die Universität Innsbruck, um als Leiter des dortigen NS-Studentenwerks zu wirken.

Nach nur kurzer Zugehörigkeit zu den Gebirgsjägern der Wehrmacht landete Schleyer während der Kriegsjahre schließlich beim "Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren" in Prag. Zwar trifft es zu, dass dieser Verband unter anderem auch die "Arisierung" der tschechischen Industrie betrieb, doch das seit den 60er-Jahren hartnäckig kursierende Gerücht, Schleyer sei in Prag gleichsam die rechte Hand Reinhard Heydrichs zumindest in wirtschaftlichen Dingen gewesen, kann Hachmeister stichhaltig widerlegen.

Nach 1945 kam Schleyer über Querkontakte aus dieser Zeit zu Daimler Benz, steig dort in den Vorstand auf, scheiterte bei dem Versuch, innerhalb dieses Unternehmens ganz an die Spitze zu gelangen und konzentrierte sich seither auf die ihn sichtlich überfordernde Führung von BDA und BDI in Personalunion.

Hachmeister zeichnet in seiner nach Auffassung des Rezensenten oft allzu weit ausufernden Biografie das Bild eines persönlich eher unscheinbaren, aber sympathischen "Strippenziehers", dessen Aufstieg sich innerhalb eines weiten Netzwerkes von Kontakten und Freundschaften vollzog. Auch der schiere Zufall spielte dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Schleyer war im heraufziehenden Medienzeitalter ein Anachronismus. Seine Erscheinung wurde in den 60er- und 70er-Jahren geradezu als Idealverkörperung des dickfälligen Lobbyisten und brutalen Kapitalisten wahrgenommen. Hachmeister ist zuzustimmen: Die RAF hatte sich mit der Entführung Schleyers eines "Stereotyps bemächtigt, nicht einer realen Person", was dessen gleichsam "stellvertretende" Ermordung nur noch unerträglicher macht.

Lutz Hachmeister

Schleyer. Eine deutsche Geschichte.

Verlag C. H. Beck, München 2004; 447 S., 24,90 Euro


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