Abonnenten des Magazins "New Yorker" können sich alle paar Wochen auf einen neuen Aufsatz des seit seiner Enthüllung des My Lai Massakers in Vietnam legendären Journalisten Seymour Hersh freuen. Wie kaum ein anderer Reporter hat Hersh seit dem 11. September 2001 den "Krieg gegen den Terrorismus" unter die Lupe genommen und seziert. Hersh war einer der ersten, der die Folterbilder von Abu Ghraib an die Öffentlichkeit brachte und nachwies, dass Abu-Ghraib keine "Verirrung" einiger weniger Soldaten und Soldatinnen war, sondern ein "konzertierter Versuch von Regierung und Militärführung, die Genfer Konvention zu umgehen".
Hershs Aufsätze (nachzulesen auf Englisch bei www.newyorker.com) über den neuartigen Krieg sind nun ergänzt und vertieft als Buch erschienen. Es leidet allerdings an der Krankheit aller in Buchform veröffentlichten Artikelsammlungen, vor allem wenn der Verleger die Leser nicht immer wissen lässt, wann die einzelnen Beiträge ursprünglich erschienen sind. Es fehlt der Kontext; der Leser weiss nicht, ob neue Erkenntnisse vor Jahren Verfasstes überholt haben. Und wenn die Einzelaufsätze auch noch so gut redigiert und "zusammengeklebt" sind: An den Schnittstellen holpert es.
Trotz dieser "Recycling"-Probleme muss "Die Befehlskette" als unerlässlicher Beitrag zur Diskussion über die Ursprünge und den Weg der amerikanischen Außen- und Militärpolitik im "Krieg gegen den Terrorismus" gelten. Durch die Auswertung öffentlich zugänglicher Dokumente und an Hand von Interviews mit kritischen, aber oft nicht namentlich genanntenMilitärs und Geheimdienstlern zeichnet Hersh im Detail einen außerordentlichen Werdegang nach, bei dem streng ideologische Politiker über Krieg und Frieden entschieden haben, beflügelt von ihrem Glauben und ohne Rücksicht auf Tatsachen - etwa ob Saddam Hussein wirklich über Massenvernichtungswaffen verfügte oder nicht. Kein Wunder, dass besonders mittelrangige Militärs und Geheimdienstbeamte entsetzt waren und anscheinend bei Hersh ausgepackt haben.
Die einzelnen Kapitel befassen sich mit dem Entscheidungsprozess vor dem Irak-Krieg, dem Versagen der Geheimdienste vor dem 11. September 2001, der Korruption in Saudi Arabien , der Schaffung einer geheimen US-Spezialeinheit zum "außergerichtlichen" weltweiten Aufgreifen mutmaßlicher islamischer Terroristen, und der Tolerierung repressiver Warlords in Afghanistan. Immer wieder kommt Hersh auf das zu sprechen, was ihn anscheinend besonders empört: Hohe Regierungsvertreter missachteten internationales und amerikanisches Recht, bewegten sich an demokratischen Sicherheitsmechanismen vorbei und schafften sich eine eigene Version der Realität.
Ganz ist Hersh offenbar nicht zufrieden mit seinen Erklärungen für den Irak-Krieg, und dafür, wie einige wenige Ideologen die "Befehlskette" vom Pentagon und dem Weißen Haus hin nach Abu Ghraib spannen konnten. "Es gibt so vieles an dieser Präsidentschaft, was wir nicht wissen... Wie konnten sich acht oder neun neokonservative Ideologen, die in einem Krieg gegen den Irak die Antwort auf den internationalen Terrorismus sahen, auf der ganzen Linien durchsetzen? Wie gelang es ihnen, die Bürokratie auszuspielen, die Presse einzuschüchtern, den Kongress hinters Licht zu führen und sich das Militär unterzuordnen?" Hersh bietet keine Antwort, sondern stellt die Frage: "Ist unsere Demokratie wirklich so fragil?"
Die Macht der Ideologen
Bleibt zu hoffen, dass Hersh in Zukunft diese Frage gründlich untersucht. Hat sich die amerikanische Gesellschaftsstruktur verschoben, so dass die Kriegstreiber viel mehr repräsentieren als "acht oder neun neokonservative Ideologen"? Seit Erscheinen des Buches ist George W. Bush wiedergewählt worden. Und die Ideologen haben anscheinend noch mehr Macht bekommen. Außenminister Powell ist weg. In der CIA sind hochrangige Beamte zurückgetreten, die nicht mitspielen wollten und sich dem Befehl des neuen Direktors widersetzten, alle Analysten müssten die Maßnahmen der Regierung unterstützen. Und der Präsident hat Alberto Gonzales, den bisherigen Rechtsberater im Weißen Haus, zum Justizminister nominiert.
Das ist der Gonzales, der laut Hersh ein Memorandum in Empfang nahm, in dem der Begriff Folter neu definiert wird. "Bestimmte Handlungen mögen grausam...sein, erzeugen jedoch nicht Schmerzen oder Leiden in der erforderlichen Intensität, um unter ein (rechtliches) Verbot der Folter zu fallen." Und weiter: Als Folter gälten nur Schmerzen, die "in ihrer Intensität vergleichbar (sind) mit Schmerzen, die durch eine schwere Verletzung hervorgerufen werden, wie etwa Organversagen, die Beeinträchtigung von Körperfunktionen oder auch der Tod". Im Januar 2002 befand der Justizminister in spe, Gefangene im Krieg gegen den Terrorismus müsssten nicht entsprechend der Genfer Konvention behandelt werden. Konrad Ege
Seymour M. Hersh
Die Befehlskette: Vom 11. September bis Abu Ghraib.
Deutsch von Hans Freundl, Norbert Juraschitz, Reiner Pfleiderer und Thomas Pfeiffer.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2004; 399 S., 14,90 Euro