Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 50-51 / 06.12.2004
Johanna Metz

Der ewige Stellvertreter

...vor 25 Jahren am 15. Dezember: Staatsakt für Carlo Schmid

Auf die Frage, was er brauche, um Konrad Adenauer zu sein, antwortete der einmal unumwunden: "Macht". Der SPD-Politiker Carlo Schmid, mit der gleichen Frage konfrontiert, sagte: "Ein Blatt Papier und einen Bleistift."

Offenkundiger kann der Gegensatz von Geist und Macht nicht sein. Anders als Adenauer verkörperte der langjährige Bundestagsvizepräsident und ehemalige Bundesratsminister Carlo Schmid so gar nicht den Typus des karrierebewussten Politikers. Der Jurist und Politikprofessor, 1896 als Sohn eines schwäbischen Privatgelehrten und einer französischen Adligen in Perpignan, Frankreich, geboren, schrieb Gedichte und veröffentlichte Übersetzungen von Werken Baudelaires oder Caldérons. Schmid war ein Bildungsbürger, Schöngeist und Genussmensch, einer, der Buttercremetorte liebte und Chruschtschow schon mal unter den Tisch soff. Weit über die Parteigrenzen hinweg fand der Mann mit der weißen Künstlermähne Bewunderung, auch wenn er, wie Walter Jens mutmaßt, im Parlament wohl eher als "humanistisch gebildetes Fabelwesen" angesehen wurde, weil er es nicht für nötig hielt, dem Plenum die Latein-Zitate in seinen Reden zu übersetzen. Vor Schmids umfassender Bildung hatte auch Adenauer Respekt: "Es kann ja gar nicht sein, dass einer so viel weiß - ich jedenfalls glaub' ihm kein Wort."

Als Schmid am 11. Dezember 1979 im Alter von 83 Jahren starb, senkte sich die schwarz-rot-goldene Fahne über dem Deutschen Bundestag auf Halbmast. Vier Tage später nahm das politische Bonn im Plenarsaal des Deutschen Bundestages mit einem Staatsakt Abschied. Am mit Flaggen geschmückten Sarg des Politikers hielten Offiziere aller Waffengattungen während der gesamten Feierstunde Totenwache. Bundestagspräsident Stücklen lobte Carlo Schmid in seiner Ansprache als "eine der überragendsten Gestalten des deutschen Parlamentarismus". Schmid habe immer eher "das Verbindende und Allgemeingültige, nicht das Trennende betont und so für einen tragfähigen Kompromiss geworben". Er habe sich mit seinem Wirken "um das Vaterland verdient" gemacht.

Willy Brandt, der damalige SPD-Vorsitzende, würdigte Schmid als einen Politiker, der "mit der Tradition der Verantwortungslosigkeit gebrochen" habe. Brandt: "Wo es darum ging, Schlacken einer unfruchtbaren Vergangenheit abzutun, war er von Anfang an dabei."

Als Vorsitzendender des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates war Schmid einer der Väter des Grundgesetzes. Auf ihn geht zum Beispiel Artikel 23 zurück, denn an der Einheit der deutschen Nation ließ er nicht rütteln. Der überzeugte Föderalist engagierte sich im Rahmen der Verfassungsgebung gegen zentralistische Tendenzen, aber auch für die Übertragung von Hoheitsrechten an den Bund. Die nach innen und außen undurchdringbare Souveränität des Nationalstaates sah er als überholt an.

Wegen seiner offenkundigen Nähe zum liberalen Bürgertum wurde ihm oft vorgeworfen, er sei doch nur "ein verhinderter Liberaler". Dem hielt Schmid gern entgegen, er habe eben den Liberalismus zu Ende gedacht. Doch obwohl Carlo Schmid zusammen mit Herbert Wehner und Willy Brandt zur Reformer-Troika der SPD gehörte - unter anderem prägte er das "Godesberger Programm" von 1959 und damit die Kursänderung der SPD von der Klassen- zur Volkspartei entscheidend mit - wurde er für die höchsten Ämter des Staates immer nur genannt, erreicht aber hat er sie nie.

1959 scheiterte er bei der Wahl des Bundespräsidenten an Heinrich Lübke und dem Widerstand der CDU. Kurzzeitig war er im gleichen Jahr als Kanzlerkandidat im Gespräch, ließ dann aber den jüngeren Parteimitgliedern Brandt und Erler den Vortritt. Als die SPD, der Carlo Schmid seit 1947 angehörte, nach 17 Oppositionsjahren 1966 ins Kabinett der Großen Koalition einzog, musste sich der inzwischen 70-Jährige mit dem Posten des Bundesratsministers, "einer Art Außenminister im Inneren", wie er es nannte, begnügen. Auch zum Bundestagspräsidenten reichte es nicht; zwanzig Jahre lang war er der "ewige" erste Stellvertreter.

Ihm habe wohl die Härte gefehlt, um ganz nach oben zu kommen, befand er selbst, und tatsächlich waren für ihn "wortscheue Redlichkeit und Hingabe an die Sache" die Tugenden des Politikers.

Wenig Ellenbogenmentalität und Selbstdarstellungsdrang, dafür aber viel Lebenssinn und Nachdenklichkeit - mit Carlo Schmid starb 1979 eine Politikerpersönlichkeit, die man heute oft vermisst.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.