Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 12 / 21.03.2005
Andrea Dunai

Erinnerung an die innere und an die äußere Front

Russische Soldatinnen erzählen über den Krieg

Frauen und Männer erzählen über dieselben Ereignisse in verschiedener Weise, halten andere Erinnerungen fest und berichten über ganz unterschiedliche Empfindungen. Auch die Erinnerungskultur im Hinblick auf den Krieg hat zwei Geschlechter. Die weibliche Sprache des Krieges war jahrelang tabu und musste erst einmal erkundet werden.

In der Roten Armee waren über eine Million Frauen eingesetzt, und bei weitem nicht alle im sanitären Bereich. Viele von ihnen zogen freiwillig in den "Großen Vaterländischen Krieg" und ließen sich für die verschiedensten Einsätze und Waffenarten ausbilden. Als Scharfschützinnen, Pilotinnen, Panzerkommandantinnen, Aufklärerinnen und Geschützführerinnen standen sie oft in der ersten Reihe. Ihre Motive waren mannigfaltig: Einige wollten ihre gefallenen Männer ersetzen, andere traten anstelle ihrer jüngeren Brüder an, manche aus Solidarität zu ihren bereits eingezogenen Freundinnen oder Ehemännern, wieder andere aus inniger Liebe zur Heimat oder aus Hass auf den Feind. Manche waren noch nicht einmal 18 Jahre alt.

Swetlana Alexijewitsch hat mit Hunderten von ehemaligen Soldatinnen gesprochen. Ihr Buch erschien 1985 in der Sowjetunion (1987 bei Henschel in Ostberlin) und machte Furore. Doch Zensur und "Selbstzensur" der weißrussischen Schriftstellerin änderten damals das Manuskript an vielen Stellen. Intime Details passten eben nicht in das heroische Idealbild der Sowjetfrau. Nach 19 Jahren liegt nun das Buch in überarbeiteter Form und in einer hervorragenden deutschen Übersetzung vor.

Keine Geschichte ähnelt der anderen und doch sind alle gleich: Im Mittelpunkt der Berichte stehen Emotionen. Erzählt wird über die verschiedensten Details: Über wund gescheuerte Füße in Männerstiefeln, über ein letztes Gespräch mit einer Freundin vor dem Gefecht, über die medizinische Betreuung eines gefangenen deutschen Soldaten, über die Amputation von zersplitterten Beinen im Lazarett, die Beisetzung des eigenen Ehemannes, nach Blut riechende Wäsche, Freude am Schminken, abgeschnittene Haarzöpfe, Menstruation bei Fußmärschen, innere Verzweiflung, unerwünschte Schwangerschaften, erzwungene Liebesaffären, wahre Liebschaften und über Glücksgefühle nach einem Sieg.

Der Übergang in das normale Leben brachte auch zahlreiche Schwierigkeiten mit sich: Die Unfähigkeit, Damenschuhe mit Absätzen zu tragen; die Scham auf dem Markt, wo es an verkrüppelten ehemaligen Kämpfern wimmelte; die eigene Uniform zu verkaufen; die Unlust, in der Familie von den Erinnerungen zu erzählen; gesundheitliche Schäden; die Konkurrenz mit den männlichen Helden; die Kindererziehung ohne Väter oder die ewigen Gewissensbisse, schwer behinderte Kinder zur Welt zu bringen.

Ein Grunderlebnis war fast allen gemein: Die Soldatinnen mussten sich in höherem Maße behaupten als die Männer: "Endlich bekamen wir den Einsatzbefehl. Ich wurde zu meinem Zug geführt. Die Soldaten sahen mich an, manche spöttisch, manche sogar böse, mancher zuckte die Achseln - alles klar. Als der Kommandeur mich vorstellte, also, das ist euer neuer Zugführer, heulten alle los: ,Bu-u-uh!' Einer spuckte sogar aus. (…) Wenn Sie mich fragen, welche Farbe der Krieg hat, dann sage ich: erdfarben. Für einen Pionier jedenfalls. Schwarz, gelb, rot-braun wie die Erde."

Dieses Buch handelt nicht vom Krieg, sondern von dessen kämpfenden Frauen, davon, wie sie sich an diese Zeit erinnern. Verschönerungen, Stolz, Kummer, Trauer, aber auch spürbare Hemmungen und Verdrängungen kennzeichnen die Gespräche. Auffällig ist, dass die Mehrheit der Frauen eher über "salonfähige" Ereignisse spricht; nur wenige stellen den Krieg in der Komplexität ihres ganzen Lebens dar.

Diese Tendenz ist verständlich. Die Soldatinnen kamen in der sowjetischen "oral history" mit großer Verspätung zu Wort. Dass sie in den Nachkriegsjahren an ihren Blusen mehrere Orden trugen, bedeutete nicht die Gleichstellung mit den männlichen Veteranen. Bis auf einige Ausnahmen verwendet die russische Sprache bei militärischen Berufsbezeichnungen noch immer die männliche Form. Swetlana Alexijewitsch ist es gelungen, die tiefsitzende Barriere des Schweigens mit viel Empathie und Neugier zu durchbrechen. Ihre Erzählkunst ist spannend und überzeugend. Dennoch bleibt noch viel zu entdecken.


Swetlana Alexijewitsch

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht.

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.

Berliner Taschenbuch Verlag, 2004; 345 S., 11,90 Euro


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