Drastisch bringt es Andreas Gross so auf den Punkt: Das Leben in Tschetschenien "ist die Hölle". Treffender als der Schweizer Sozialdemokrat, der im Auftrag der Parlamentarischen Versammlung des Europarats einen Runden Tisch zu dem Konflikt organisiert, kann man die Katastrophe in dem vom Krieggezeichneten Kaukasusland nicht charakterisieren. Etwa 200.000 Tschetschenen und rund 15.000 russische Soldaten starben in über einem Jahrzehnt. Die Menschen leiden unter einer Orgie von Gewalt, für die Moskauer Militärs und Geheimdienste, deren einheimische Verbündete, Warlords, Kriminelle, korrupte Politiker und zum Teil mit brutalem Terror für die Unabhängigkeit kämpfende Rebellen verantwortlich sind.
Jedes Jahr entführen und ermorden nach Recherchen von Menschenrechtsgruppen wie etwa Memorial Todesschwadrone russischer Geheimdienste oder lokaler Kriegsherren Hunderte von Oppositionellen. Dörfer werden zerbombt, Häuser gesprengt. Nach Erkenntnissen des Europarats leben an die 100.000 Flüchtlinge unter miserablen Bedingungen in Anrainerstaaten wie Inguschetien und Dagestan.
Auch in Flüchtlingslagern innerhalb Tschetscheniens herrschen teils schlechte hygienische Verhältnisse. Die Zahl der Kriegsverletzten ist enorm. Blutrünstige Rebellenkommandeure wie Schamil Bassajew verüben Terrorakte, etwa den Anschlag auf ein Moskauer Theater oder die Geiselnahme in der Schule von Beslan. So dramatisch die Lage ist, so ist das Schicksal der Tschetschenen international auf seltsame Weise zusehends in den Hintergrund gerückt.
Geheim ist die Katastrophe trotz massiver Behinderungen der Medien wie auch von Menschenrechtsgruppen durch die Behörden keineswegs. Vertreter des Europarats-Parlaments, vor allem Andreas Gross und der SPD-Bundestagsabgeordnete Rudolf Bindig, oder der Spanier Alvaro Gil Robles als Menschenrechtskommissar des Staatenbunds haben nach Visiten in der Region viele kritische Berichte verfasst. Vor dem Palais d'Europein Straßburg stehen oft Bürgerrechtsinitiativen und klagen mit Photos von zerfetzten Leichen, maltraitierten Verletzten, weinenden Witwen oder ausgebrannten Häusern die Menschenrechsverstöße an. Die Liga für Menschenrechte, amnesty international, Memorial und andere Organisationen erheben immer wieder ihre mahnende Stimme.
Die Ermordung des Rebellenführers Aslan Maschadow, des 1997 einigermaßen demokratisch gewählten Tschetschenen-Präsidenten, richtet plötzlich wieder die Scheinwerfer auf das Pulverfass. Offenbar waren in diese dubiose Aktion russische Geheimdienste und der tschetschenische Vizepremier Ramsan Kadyrow verwickelt.
Zulauf für die Falken
Dringender denn je stellt sich die Frage, was Europa tun kann, um einer Eskalation nach der Tötung des als gemäßigt geltenden Maschadow zu begegnen. Der Rebellenführer "wurde von Kräften ermordet, die jede Alternative zum Krieg sabotieren wollen", meint Andreas Gross. Der Tod Maschadows, der anders als die mit Moskau kooperierende Führung in Grosny zu den Aufständischen zählte, helfe "nur den Falken in beiden Lagern". Die kompromisslosen Rebellen dürften nun gerade unter jungen Leuten noch mehr Zulauf finden als bisher schon. Maschadow war der letzte auf der Seite der Aufständischen, der noch Gesprächssignale nach Moskau sandte. Sucht jetzt Präsident WladimirPutin endgültig die militärische Entscheidung in Tschetschenien?
EU wie Europarat vermögen nicht allzu viel zu tun für eine politische Lösung im Kaukasus. Von einer Tschetschenienpolitik in Brüssel kann im Grunde nicht die Rede sein. Der Einfluss ist einfach deshalb begrenzt, weil Russland der EU nicht angehört. Das EU-Parlament hat mehrfach eine friedliche Regelung im Kaukasus angemahnt. Und auch die Grünen fordern immer wieder, die Ermordung Maschadows im EU-Parlament zu diskutieren. Doch kritische Resolutionen dieser Art finden in Russland kaum Widerhall. Eher vage Hoffnungen knüpft man in Brüssel an Vertragsverhandlungen mit Moskau über eine engere Anbindung an die EU: Vielleicht ändert Putin ja seinen Kurs in Tschetschenien, um Kooperationsabkommen nicht zu gefährden. Sozusagen ein Wandel durch Annäherung.
Beim Europarat ist Russland hingegen Mitglied. Doch die Macht Straßburgs reicht ebenfalls nicht weit. Das Parlament des Staatenbunds hat öfter das Vorgehen Moskaus im Kaukasus verurteilt und den russischenDelegierten wegen der Menschenrechtsverletzungen im Zuge der dortigen Kriegführung sogar einmal vorübergehend das Stimmrecht aberkannt. Beeindrucken lässt sich Putin durch diese Aufmüpfigkeit indes nicht. Unermüdlich müht sich Menschenrechtskommissar Gil Robles, den Gesprächsfaden zu den Aufständischen wie zur Moskauer Regierung nicht abreißen zu lassen. Der Europarat achtet im Übrigen darauf, nicht Partei für die Rebellen zu ergreifen und die territoriale Integrität Russlands im Kaukasus nicht in Frage zu stellen. Von einer Vermittlung seitens derEU oder des Europarats will Putin freilich nichts wissen.
Andreas Gross appelliert an die führenden Regierungen Europas, bei ihren Gesprächen mit Moskau auf eine politische Lösung in Tschetschenien zu dringen. Und mit dem Runden Tisch in Straßburg will der Europarat zumindest ein Zeichen setzen, dass sich gerade nach dem Tod Maschadows "alle Friedenswilligen um Auswege aus der Sackgasse des Krieges, der Gewalt und des Terrors" kümmern müssen, so Gross. Vorerst aber sind die Chancen auf Frieden im Kaukasus weiter gesunken. Nun werde "niemand mehr über Verhandlungen auch nur reden wollen", meint resignierend Walentina Melnikowa vom Komitee russischer Soldatenmütter.