Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 25.04.2005
Ulrike Schuler

Verschwunden in der argentinischen Diktatur, aber längst nicht vergessen

Deutschstämmige Mütter setzen auf die deutsche Justiz, um Gerechtigkeit für ihre ermordeten Kinder zu erreichen

Die Bilder sind auch heute noch eindrucksvoll: Frauen mit weißen Kopftüchern und entschlossenem Gesichtsausdruck drehen seit 28 Jahren unverdrossen ihre Runden auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires, halten Fotos ihrer verschwundenen Kinder in die Höhe und fordern Auskunft über deren Verbleib. Einige dieser Mütter sind vor den Nationalsozialisten geflohene Jüdinnen deutscher Abstammung und haben ihre Hoffnungen auf die deutsche Justiz gesetzt, um die am Tod ihrer Söhne und Töchter schuldigen Mitglieder der argentinischen Militärdiktatur zur Verantwortung zu ziehen. Im Sommer vergangenen Jahres bekamen diese Hoffnungen einen Dämpfer, die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth stellte die Verfahren wegen Nichtzuständigkeit der deutschen Justiz ein.

"Traurig und unangemessen und juristisch nicht überzeugend", findet der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck die Argumentation der Staatsanwaltschaft und legte Beschwerde dagegen ein, die Verfahren einzustellen. Kaleck ist Sprecher der "Koalition gegen Straflosigkeit", einer Organisation von Menschenrechtlern und Anwälten, die sich um die Ahndung der Verbrechen der argentinischen Junta bemüht. Er vertritt in fünf Fällen Angehörige deutsch-jüdischer Abstammung von Opfern der Diktatur (1976 - 1983).

Die Kläger hätten durch die nationalsozialistische Gesetzgebung ihre deutsche Staatsbürgerschaft verloren und sich auch nach Ende des "Dritten Reichs" nicht um eine Wiedereinbürgerung bemüht, begründet die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth ihre Nichtzuständigkeit. "Den Juden wurde zu Unrecht aufgrund nichtiger Gesetze die Staatsbürgerschaft entzogen", hält Kaleck dagegen. Nicht nur aus moralischen, sondern auch aus juristischen Gründen müsse der Nazigesetzgebung die Geltung als Recht abgesprochen werden, so dass man davon ausgehen könne, dass eine Ausbürgerung nicht stattgefunden habe. Zudem würde die Behandlung anderer Gruppen - wie beispielsweise die der Vertriebenen - zeigen, wie sehr die Staatsangehörigkeit Auslegungssache sei.

Anders argumentiert der Leiter der Justizpressestelle am Oberlandesgericht Nürnberg, Bernhard Wankel: Da viele Juden, die das nationalsozialistische Deutschland verlassen hätten, die deutsche Staatsbürgerschaft gar nicht hätten behalten wollen, habe der Gesetzgeber in diesen Fällen eine Beantragung als Voraussetzung für den deutschen Pass festgeschrieben. In den abgewiesenen Fällen sei bis auf einen Fall ein Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft nie gestellt worden. "Es gibt allerdings einen Konflikt zwischen einem formellen und einem materiellen Begriff der Staatsangehörigkeit", gesteht auch Wankel ein. Bisher sei die formelle Interpretation üblich gewesen. "Aber das heißt nicht, dass sich das nicht auch um 180 Grad wenden kann. Da gibt es zwei verschiedene Rechtsauffassungen und für beide gute Argumente", sagt Wankel und hält die Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg über die eingereichte Beschwerde für "offen". Bis zu einem Urteil könnten jedoch noch Monate vergehen. Ein zu großer Zeitrahmen für die betagten Mütter der Junta-Opfer.

Eine von ihnen ist Ellen Marx. Bei einem Besuch vor zwei Jahren in Berlin konnte sie noch ausführlich über ihre Tochter Nora erzählen. Inzwischen ist die 84-Jährige gesundheitlich schwer angeschlagen, auch ein Telefongespräch ist nicht mehr möglich. Ellen Marx flüchtete 1939 als 18-Jährige vor dem NS-Regime nach Argentinien, die Zeit der Militärdiktatur war für sie ein schlimmes "Déjà-vu-Erlebnis". "Dass eine Regierung eine bestimmte Anzahl von Personen tötet, denen sie das Recht abspricht zu leben, habe ich schon zwei Mal erlebt", sagte die Jüdin.

Ihre Tochter Nora war eine junge Frau, die sich berühren ließ von Ungerechtigkeiten. Dann wurde sie unbequem. Für Lehrer, die Klassenkameraden unkorrekt behandelten, für den Arbeitgeber, der bei den Lohnabrechnungen mauschelte, für die, die sie von ihrem sozialen Engagement in den Elendsvierteln von Buenos Aires abhalten wollten. Die damals 28-jährige Meteorologin gehörte einer Gruppe an, die sich "Justicia Social" nannte. Sie verteilten Zeitschriften und Flugblätter, in denen sie mehr soziale Gerechtigkeit forderten. Engagierte junge Leute wie sie waren der argentinischen Militärjunta ein Dorn im Auge. "Sie hat nicht nur geholfen, sondern auch protestiert", beschrieb Ellen Marx die Tochter. Kurz nach der Machtübernahme der Militärs, am 21. August 1976, "verschwand" Nora Marx. Ihre Mutter machte sich auf die Suche. Sie stellte Anträge, machte Anzeigen, klapperte Polizeistationen, Krankenhäuser und das Innenministerium ab - ohne Erfolg. Schließlich ging Ellen Marx zu verschiedenen Anwälten und Menschenrechtsorganisationen, suchte den Kontakt zu anderen Müttern von "Verschwundenen" und setzte auf engagierte Menschen in Deutschland, damit das Unrecht, das ihrer Tochter angetan wurde, nicht ungesühnt bliebe. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrer Tochter gab auf. 1983 meldete sich ein Zeuge, der der jungen Frau auf einem Polizeirevier begegnet war. Sie seien gefoltert worden, erzählt er. Er überlebte.

Genauso wie Nora Marx "verschwanden" in Argentinien während der Diktatur nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen bis zu 30.000 Menschen. Tausende wurden gefoltert, umgebracht, bei lebendigem Leib über dem Meer abgeworfen. Das Schicksal der meisten "Verschwundenen" konnte nie rekonstruiert werden. Da zahlreiche Amnestiegesetze die Junta-Chefs vor der Justiz schützten, setzten Menschenrechtler auf europäische Länder, die im Namen ihrer Staatsangehörigen Anzeige erstatten können.

Inzwischen haben sich in Argentinien die Zeiten geändert: Unter dem derzeitigen Präsidenten Néstor Kirchner wurden die wichtigsten Amnestiegesetze aufgehoben. Wolfgang Kaleck bleibt skeptisch: "Noch ist nicht klar, ob Kirchner sich durchsetzen kann." Der Oberste Gerichtshof in Argentinien müsse über die rückwirkenden Gesetze entscheiden, und die Justiz sei voll von Leuten, die mit der Diktatur paktiert hätten, sagt Kaleck. So lange die Haftbarmachung der Ex-Militärs nicht sicher sei, sei der Druck aus dem Ausland weiterhin nötig. Besonders wichtig sei das für die Angehörigen der Opfer. "Die Mütter wollen wissen, was mit ihren Kindern passiert ist, und sie wollen die Militärs verurteilt und inhaftiert sehen", sagt Kaleck.

Um eine wirklich demokratische Gesellschaft in Argentinien entstehen zu lassen, sei die Aufarbeitung der Vergangenheit unabdingbar, meint Kaleck. "Wenn ein Polizeiapparat einmal begriffen hat, dass er morden und foltern kann, ohne belangt zu werden, wird er so lange damit weiter machen, bis der Staat zeigt, dass das nicht geht." Die Straflosigkeit sei größtes Hindernis auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft."

Einen Grundstein zu einer besseren Gesellschaft nach der Diktatur haben die Frauen der Plaza de Mayo gelegt: "Die Mütter von der Plaza de Mayo haben erreicht, dass die ganze Welt weiß, was die Junta gemacht hat, und dass das Unrecht war", so der Berliner Anwalt. "Sie sind historisch etwas Einmaliges." Am meisten beeindruckt hat den Anwalt der Fall von Ellen Marx. "Ihre Geschichte, die Tatsache, dass ein Mensch so viel Unrecht ertragen musste und trotzdem weiterkämpft, ist für mich von großer Bedeutung", sagt Kaleck. Für die Angehörigen hofft er weiter auf eine weniger formelle Auslegung der deutschen Gesetze und weiß dennoch: "Gerechtigkeit wird immer eine Zielvorstellung bleiben, der man sich nur annähern kann." Deshalb werden die Mütter der Plaza de Mayo weiter ihre Runden drehen müssen. Kaleck baut darauf, dass sich die nächste Generation, die Brüder und Schwestern der Opfer, wie die Mütter dafür einsetzen, dass die Täter vor Gericht stehen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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