Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 25.04.2005
Susanne Kailitz

Menschenleben für den Staat

Damals ...vor 30 Jahren am 25. April: Der Bundestag zieht Bilanz nach der Stockholmer Botschaftsbefreiung

Die Angespanntheit der vergangenen Stunden stand Helmut Schmidt noch ins Gesicht geschrieben, als er am 25. April 1975 vor die Abgeordneten trat. Der Bundeskanzler informierte das Parlament über jene zwölf Stunden, in denen "unser Bundesstaat vor der schwerstwiegenden Herausforderung seiner bisherigen 26-jährigen Geschichte" gestanden hatte.

Am Vortag hatte das "Kommando Holger Meins" die deutsche Botschaft in Stockholm überfallen und zwölf Geiseln genommen. Ziel der Aktion: Die Befreiung von 26 politischen Häftlingen aus den Reihen der Baader-Meinhof-Gruppe. Seit mehr als zwei Jahren saßen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe - die Kader der Roten Armee Fraktion - zu diesem Zeitpunkt im Stuttgarter Gefängnis und sahen ihrem Prozess entgegen. Sie hatten Anfang der 70-er Jahre den Terror nach Deutschland gebracht, als sie angetreten waren, den "antiimperialistischen Kampf" gegen den vermeintlich repressiven bundesdeutschen Staat zu führen. In den zwei Jahren ihres Wirkens - von der Baader-Befreiung im Mai 1970 bis zur Festnahme der Gruppe 1972 - hatten ihre Brand- und Sprengstoffanschläge vier Menschen das Leben gekostet und 60 verletzt. Ihrem Kampf gegen das "Schweinesystem" hatten sie auch Mitglieder aus den eigenen Reihen geopfert: Im November 1974 war nach einem monatelangen Hungerstreik, mit dem bessere Haftbedingungen erpresst werden sollten, das RAF-Mitglied Holger Meins verhungert.

Seinen Namen trug das Terrorkommando von Stockholm - und mit dem gleichen Fanatismus, mit dem Meins sich zu Tode gehungert hatte, gingen die sechs Terroristen vor, die, um ihre Kader freizupressen, zwei Geiseln erschossen. Der herausgeforderte Staat hingegen reagierte nicht wie gedacht. Anders als im Februar 1975, als die "Bewegung 2. Juni" den Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz entführt und die Freilassung von Gefangenen gefordert hatte, gab die Bundesregierung dieses Mal nicht nach. Bei der Stürmung der Botschaft und der Befreiung der Geiseln durch die schwedischen Sicherheitsbehörden - nachdem die Terroristen eine Sprengstoffladung gezündet hatten - wurden zwei der Terroristen getötet.

In seiner Regierungserklärung am Tag danach begründete Schmidt die harte Haltung der Bundesregierung. Man habe zwischen "zwei sehr hohen Rechtsgütern" abwägen müssen: dem Leben der Geiseln und der lebens- und rechtsschützenden Funktion des Staates. Vor der Aufgabe des Staates, "das Leben und die Freiheit aller seiner Bürger zu schützen", hätten "wir versagt, wenn 26 anarchistische Banditen freigelassen worden wären". Wären sie freigekommen, wäre man in der Bundesrepublik "vielleicht schon nach kurzer Zeit am Ende aller Sicherheit gewesen".

Trotz der Trauer über den Tod der Geiseln im Parlament wusste Schmidt sich in dieser Position einig mit den Vertretern der anderen Parteien. Auch Oppositionsführer Karl Carstens (CDU) betonte, die Freilassung der Gefangenen hätte eine "allgemeine schwere Erschütterung des Vertrauens in unseren Rechtsstaat" zur Folge gehabt. Er mahnte an, man müsse künftig "energischere Maßnahmen" ergreifen, um den Rechtsstaat zu schützen. Geschehe dies nicht, "könnten Menschen zu der Auffassung kommen, dass sie sich ihr Recht selber suchen müssten, wenn der Staat nicht genügend dafür sorgt, dass Recht und Ordnung in unserem Lande überall und zu jeder Zeit durchgesetzt werden". Bundesratspräsident Alfred Kubel (SPD) demonstrierte Stärke: "Mögen aber diejenigen, die weiter meinen, unseren Staat mit verbrecherischen Anschlägen zerstören zu können, erkennen, dass wir ihrer Gesinnung und ihren Taten immer mit letzter Entschlossenheit zur Verteidigung unserer Freiheit entgegentreten werden."

Wie schnell dies wieder nötig sein würde, ahnte damals wohl niemand. Schon im Herbst 1977 stand man erneut vor der Aufgabe, Staatsräson und Menschenleben gegeneinander abzuwiegen. Die RAF entführte den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und forderte die Freilassung von elf Häftlingen. Die Bundesregierung entschloss sich zu einer Verzögerungstaktik, bis ein Palästinenserkommando die Lufthansa-Maschine "Landshut" entführte, um die Terroristen zu unterstützen. Die Stürmung durch die GSG9 beendete alle Verhandlungen. Nach dem Bekanntwerden der Aktion begingen Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim Selbstmord - und die RAF ermordete Schleyer. Der deutsche Linksterrorismus überdauerte die Regierung Schmidt. Erst im April 1996 löste die RAF sich endgültig auf.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.