Zu dieser neuen Offenheit gehört die Idee des Bundes der Vertreibenen (BdV), mit einem "Zentrum gegen Vertreibungen" (ZgV) eine nationale Gedenkstätte zu errichten, die zum einen an das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen, zum anderen durch Wechselausstellungen an die "Vertreibung anderer Völker, insbesondere im Europa des 20. Jahrhunderts" erinnern soll. So legen es zumindest die Stiftungsziele fest. Doch dürfen deutsche Opfer derart in den Mittelpunkt gerückt werden angesichts der Millionen Toten, die Hitlers Rassenvernichtungskrieg in Ostmitteleuropa gefordert hat?
Micha Brumlik, Direktor des Fritz Bauer Instituts und Professor für Theorien und Bildung an der Universität Frankfurt, sagt Nein. Er kommt zu dem Schluss, dass auf jede Art von Gedenkkultur, die sich allein auf die deutschen Opfer von Vertreibungen bezieht, unbedingt verzichtet werden muss. Damit will er das Leid der Deutschen nicht relativieren oder etwa leugnen. Für ihn steht das Schicksal der Vertriebenen aber in direktem "Tun-Ergehenszusammenhang" mit der nationalsozialistischen Vernichtungs- und Umsiedlungspolitik und der von Hitler betriebenen Ausdehnung des deutschen Herrschaftsbereiches auf Ost- und Mitteleuropa. Ohne diese aggressive Politik der Nazis wäre es nicht zu den Vertreibungen gekommen.
Im Vorhaben des BdV, dem Vertriebenenschicksal eine eigene Gedenkstätte zu widmen, vermutet Brumlik daher ein "nationaltherapeutisches Programm der Hebung der nationalen Selbstachtung". Mehr noch: Er meint, mit dem Eintreten des Zentrums für die Anerkennung des jungtürkischen Genozids an den Armeniern (1915/16) werde die Genozid-Frage zum Hauptthema des Zentrums gemacht, um damit zu unterstellen, dass die Vertreibung der Deutschen ebenfalls ein Genozid gewesen sei.
"Geschichtsblindheit"
Dem widerspricht Brumlik vehement. Die (zweifels ohne auf menschenunwürdige Weise) überladenen Züge aus den sudetendeutschen Gebieten in Richtung Westen hätten die Deutschen eben nicht in ein Vernichtungslager oder in die Gaskammern geführt, sondern in die von den Alliierten verwalteten Besatzungszonen. Diese "Geschichtsblindheit", so Brumlik, gipfele in einer offenbar gewollten Konkurrenz mit dem Gedenken an die Opfer der Shoa.
Wer glaubt, er gewinne durch die Lektüre des Buches mehr Orientierung oder gar eine schnelle Argumentationshilfe in diesem schwierigen Diskurs, der wird diese Streitschrift schnell beiseite legen. Denn so sehr der Titel den geschichtsinteressierten Leser auch mit vermeintlich populärwissenschaftlichen Exkursen lockt - wer nicht die Geduld aufbringt, seitenlange moralphilosophische, psychoanalytische, pädagogische und entwicklungspsychologische Ausführungen über einzelne Aspekte und Begrifflichkeiten zu lesen, wer nicht die Akribie des Wissenschaftlers in sich trägt, um den ausschweifenden Argumentationssträngen zu folgen, der ist bei Brumlik grundfalsch.
Wer aber Ausführliches über den aktuellen Forschungsstand zum Thema Vertreibung und Aussiedlung erfahren und etwas über den historischen Kontext des "Jahrhunderts der Vertreibungen" lesen möchte, vom Genozid an den Armeniern bis hin zum Bürgerkrieg und den Vertreibungen in Jugoslawien, wer den Schwenk von der Literaturanalyse zur Traumaforschung schwindelfrei übersteht und eintauchen will in die Tiefen dieser so differenzierten Debatte, der findet hier eine eindrucksvolle Zusammenfassung von Thesen, Fakten und Hintergründen.
Micha Brumlik zu lesen ist anstrengend. Oberflächlichkeit ist nicht seine Sache. Seine Schlussfolgerungen kommen nie ohne handfeste Argumentationen daher; jede Behauptung wird wissenschaftlich begründet und mit Theorie und Praxis unterfüttert. An der Schärfe seiner Thesen ändert das nichts. Brumliks Fazit in der Diskussion um das "Zentrum gegen Vertreibungen": Es komme darauf an, den "Urzustand alles Unversöhnlichen" dort sein zu lassen, wo er ist: "nämlich in der Vergangenheit."
Micha Brumlik
Wer Sturm sät.
Die Vertreibung der Deutschen.
Aufbau-Verlag, Berlin 2005; 300 S., 17,90 Euro