Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 18 - 19 / 02.05.2005
Johannes Hürter

Mit Krieg und Massenmord zu einem neuen Europa

Nationalsozialistische Expansion und Zweiter Weltkrieg
Wer sich mit dem Zweiten Weltkrieg und seiner Vorgeschichte beschäftigt, kann mit gutem Grund bei Adolf Hitler beginnen. Denn trotz aller neuen Erkenntnisse über die komplexen Entscheidungen und polykratischen Strukturen des NS-Regimes ist der "Faktor Hitler" nach wie vor aus der Entwicklung zu Krieg und Massenverbrechen nicht wegzudenken.

So zerbrechlich das internationale System und so virulent das Revisionsstreben des großen Verlierers von 1918, des Deutschen Reichs, seit Anfang der 1930er-Jahre auch schon ohne Zutun des Diktators waren und weiterhin gewesen wären: Es ist höchst unwahrscheinlich, dass ein autoritärer Staat nationalkonservativer Couleur, der 1932/33 eine realistische Alternative zur NS-Diktatur darstellte, mit auch nur annähernd vergleichbarer Brutalität, Zielstrebigkeit und Geschwindigkeit auf einen großen Krieg zugesteuert wäre wie das "Dritte Reich" unter Führung Hitlers. Der ehemalige Gefreite des Ersten Weltkriegs und vorerst gescheiterte Revoluzzer der völkischen Bewegung entwarf bereits 1924 in "Mein Kampf" ein politisches Programm, das nur durch Expansion, Krieg, Terror, Mord und Vertreibung verwirklicht werden konnte. Seither hatte der Warnruf der Linken und Demokraten am Ende der Weimarer Republik seine tiefe Berechtigung: "Hitler bedeutet Krieg!"

Was war das Ziel seines Programms? Hitler zog eine radikale Konsequenz aus der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und träumte von einem wirtschaftlich autarken und militärisch unbesiegbaren "Großgermanischen Reich", das den europäischen Kontinent beherrschen und der deutschen "Herrenrasse" einen "Lebensraum" von Flandern bis zum Ural, eventuell ergänzt durch Kolonien in Afrika, bieten würde. Die Völker Osteuropas sollten nach der Eroberung des neuen Wirtschafts- und Siedlungsraums im Osten dezimiert und zu Arbeitssklaven degradiert, die Juden möglichst ganz aus dem deutschen Herrschaftsgebiet beseitigt werden. In einem solchen Europa war den Nationen außerhalb der neuen Reichsgrenzen nur eine untergeordnete Rolle zugedacht, die jeweils nach dem "Wert" ihrer "Rasse" hierarchisch abgestuft war. Das "germanische" Großbritannien wurde immerhin noch als potentieller Juniorpartner anerkannt, der die neue Hegemonialmacht im Kampf um die globale Vorherrschaft unterstützen durfte. Diese größenwahnsinnige Geopolitik sah sich durch die verbreitete sozialdarwinistische Auffassung legitimiert, dass allein der Stärkere im Existenzkampf um das Lebensrecht von Menschen und Völkern bestehen könne. Weitere Zutaten waren ein übersteigerter Antisemitismus und Antikommunismus, die sich außenpolitisch um so mehr gegen die "jüdisch-bolschewistische" Sowjet-union richten mussten, als diese Macht der geplanten Expansion nach Osten im Weg stand.

Nach der "Machtergreifung" vom 30. Januar 1933 sprach Hitler seine geostrategischen Ziele aus taktischen Gründen in der Öffentlichkeit nicht mehr so deutlich an. Dennoch verfolgte er sie konsequent weiter. Das "deutsche Raumproblem" sollte in drei Stufen gelöst werden: erst die Errichtung einer kontinentalen Vorherrschaft, dann die Eroberung von "Lebensraum im Osten", schließlich der Griff nach der Weltmacht. Diese Vorstellungen waren allerdings mehr ein grober Wegweiser als ein fest umrissenes und zeitlich festgelegtes Programm. Der Diktator reagierte recht flexibel und bei Bedarf auch undogmatisch auf bestimmte internationale Konstellationen und Gelegenheiten. Zunächst strebte er danach, das Reich nach außen wieder voll handlungsfähig und kriegsbereit zu machen. Die schnelle Wiedererlangung der staatlichen und militärischen Gleichberechtigung sowie die fieberhafte Aufrüstung fanden die Unterstützung der nationalkonservativen Eliten, die Zustimmung fast aller Deutschen und das Verständnis vieler Ausländer. Dass Hitler viel weiter gehen wollte als bis zur Revision des Versailler Friedens oder zur Restitution der deutschen Großmacht von 1914 ließ er nach den ersten Erfolgen intern immer deutlicher durchblicken. So erinnerte er etwa die Wehrmachtsführung und Generalität zwischen 1937 und 1939 mehrfach an die Vorbereitung eines "Weltanschauungs- und Rassekriegs" zur notwendigen "Erweiterung des Lebensraumes im Osten", die er den Befehlshabern der Reichswehr bereits am 3. Februar 1933 als sein außenpolitisches Ziel genannt hatte. Die Drohung in der Reichstagssitzung vom 30. Januar 1939, dass ein neuer Weltkrieg mit der "Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa" enden werde, zeigte zusätzlich, welch dunkle Wolken sich über dem europäischen Kontinent und seinen Bewohnern zusammenzogen.

Dass der charismatische "Führer" alles andere als ein schwacher Diktator war, zeigte sich nirgends deutlicher als in der hochgradig aggressiven und annexionistischen Außenpolitik des NS-Regimes. Hitler persönlich war der Motor eines Expansionskurses, der zunächst zu einer Reihe von triumphalen Eroberungen führte, ohne dass die Schwelle des "heißen" Krieges übertreten werden musste. Die Wehrmacht konnte im März 1938 in Österreich, im Oktober 1938 in das Sudetenland sowie im März 1939 in die "Rest-Tschechei" und das Memelgebiet einmarschieren. Damit war freilich der Annexionshunger des "Großdeutschen Reiches", wie der NS-Staat jetzt offiziell hieß, längst nicht gestillt. Das mussten nun auch die Verständigungspolitiker der Westmächte einsehen, die sich zu lange auf faule Kompromisse eingelassen hatten. Die nationalsozialistische Außen- und Rüstungspolitik führte unweigerlich in den Krieg, auf den Hitler seit dem Frühjahr 1939 trotz der Bedenken seiner Berater, trotz des unfertigen Rüstungsstands der Wehrmacht und trotz der mangelnden Kriegsbegeisterung in der Bevölkerung immer zielstrebiger zusteuerte. Allerdings wollte er den seiner Überzeugung nach unausweichlichen Konflikt mit Polen und Frankreich zunächst isolieren, um sich seine Beute wie bisher nach und nach, Stück für Stück zu nehmen. Im Osten gelang ihm dies durch den überraschenden Coup des Hitler-Stalin-Pakts, der von beiden Seiten als ein vorübergehendes Zweckbündnis angesehen wurde. Im Westen dagegen trog die Hoffnung auf eine britische Neutralität. Dass Hitlers Vabanquespiel dennoch nicht schon jetzt zu einer militärischen Katastrophe, sondern bis Mitte 1940 zur Niederwerfung Polens, Dänemarks, Norwegens, der Benelux-Staaten und vor allem Frankreichs, also zur deutschen Vorherrschaft über weite Teile Europas führte, übertraf die kühnsten revisionistischen und revanchistischen Träume, die in Deutschland beileibe nicht nur von radikalen Kräften gehegt wurden. Die deutsche Expansionspolitik, die 1918 gestoppt worden war, stieß wieder in ungeahnte Dimensionen vor. Jetzt schien auch den alten Eliten vieles möglich und erstrebenswert, was vorher eher als Hirngespinst eines Hasardeurs galt.

Gewaltiges Bestechungssystem

Hinter dem "Faktor Hitler" dürfen die Komplizenschaft von Wehrmacht, Bürokratie, Justiz, Polizei und Wirtschaft, die Ergebenheit der Partei und die Zustimmung der meisten Deutschen nicht übersehen werden. Schon vor 1939 gab es kein Anzeichen dafür, dass irgendeine maßgebliche Institution oder Gruppe in Deutschland den Zielen Hitlers entgegenarbeitete. Die militärischen Erfolge von 1939/40, besonders der überwältigende Sieg gegen den "Erzfeind" Frankreich, umgaben den Diktator mit der Gloriole des "größten Feldherrn aller Zeiten", dem offenbar alles gelang. Doch nicht allein die Unterwerfung des halben Kontinents zerstreute die Bedenken, berauschte den Verstand und korrumpierte die Moral. Der NS-Staat stützte sich auch auf ein gewaltiges Bestechungssystem. Die Eliten in Militär und Bürokratie wurden durch Beförderungen, Ehrungen und materielle Zuwendungen, die so genannten Dotationen, gekauft. Die Wirtschaft profitierte erst von der Aufrüstung, dann von den Raubzügen und Sklavenjagden in ganz Europa. Und die "Volksgemeinschaft" wurde durch steuerliche und soziale Vergünstigungen für die Durchschnittsverdiener sowie eine selbst im Krieg relativ gute Versorgung auf Kosten der besetzten Gebiete zusammen gehalten und ruhig gestellt. Um so bereitwilliger folgten die Deutschen ihrem "Führer" in die immer radikaleren Friedens-, Rechts- und Zivilisationsbrüche. Alle nachträglichen Versuche, die Verantwortung für die ungeheuerliche Gewaltpolitik des NS-Regimes auf Hitler und seine Schergen oder zumindest doch auf "die" Nazis abzuwälzen, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Politik nur möglich war, weil so viele sie unterstützten und so verschwindend wenige sich ihr widersetzten. Der nationalsozialistische Terror gegen die eigene Bevölkerung war nur eine und bei weitem nicht die wichtigste Grundlage einer inneren Stabilität und Integration, die erst in den letzten Kriegsmonaten bröckelte.

Nach dem Triumph des Westfeldzugs wurde die "Neuordnung Europas" auch offiziell als deutsches Kriegsziel formuliert. Hitler und seine Anhänger verstanden unter diesem Begriff die Verwirklichung ihrer hybriden Lebensraumpläne, die Wirtschaft versprach sich eine dominierende Stellung auf dem Weltmarkt durch die hemmungslose Ausbeutung der europäischen Ressourcen, und selbst die konservativen Kräfte hatten gegen eine Hegemonie in Europa und eine koloniale Ausbeutung des Ostens nichts einzuwenden. Zugleich wurde unter Federführung der SS mit der Ausarbeitung einer Gesamtkonzeption zur Germanisierung von Teilen der besetzten und noch zu erobernden Ostgebiete begonnen, dem berüchtigten "Generalplan Ost", der die Umsiedlung, Versklavung und Vernichtung von Millionen Menschen vorsah. Die Blicke nach Osten wurden nun immer begehrlicher, der Frieden mit der Sowjetunion immer brüchiger. So paradox es klingen mag: Der hartnäckige Widerstand Englands in der zweiten Jahreshälfte 1940 förderte Hitlers Entschluss, sein eigentliches politisch-ideologisches Ziel, das er aus taktischen Rücksichten vorübergehend zurückgestellt hatte, schon jetzt wiederaufzunehmen und seinen eigentlichen Krieg zu beginnen, obwohl das "germanische Brudervolk" auf der britischen Insel noch nicht "zur Vernunft gebracht" war. Denn neben das zentrale Dogma der Vernichtung des "jüdischen Bolschewismus" und der Eroberung neuen Lebensraums trat jetzt als gewichtiges Argument das Kalkül, durch die Ausschaltung von Englands potentiellem "Festlanddegen" und den Gewinn einer neuen ökonomischen Basis die kontinentale Hegemonie zu sichern, um dann gestärkt den "Endkampf" gegen die letzten Großmächte aufnehmen zu können: Großbritannien und die USA. Doch auch bei dieser Entscheidung waren wohl letztlich die kruden ideologischen Vorstellungen Hitlers bestimmender als strategische und wirtschaftliche Motive.

Schon im Juli 1940 befahl der Diktator, den Angriff auf die Sowjetunion vorzubereiten, was zunächst eher zögernd, dann ab Dezember 1940 mit allen Kräften geschah. Der deutsch-sowjetische Krieg, der am 22. Juni 1941 mit dem überraschenden Überfall der Wehrmacht begann, ragt in seiner militärischen Bedeutung und einzigartigen Brutalität unter allen Teilkonflikten des Zweiten Weltkriegs heraus. Entsprechend den Intentionen Hitlers, wurde der Feldzug gegen den Staat Stalins von Anfang an nicht als gewöhnliche militärische Kampagne, sondern als rassenideologischer Vernichtungskrieg und kolonialer Raubzug vorbereitet und geführt. Den Entschluss zu diesem größenwahnsinnigen "Unternehmen Barbarossa" hatte Hitler gefasst, doch auch hier gilt: Ohne die willige Mitarbeit und häufig auch die eigenständige, radikalisierende Initiative der Wehrmacht, des SS- und Polizeiapparats, der Verwaltung und der Wirtschaft wäre seine Durchführung nicht möglich gewesen. Und nicht allein Hitler trägt die Verantwortung für die kriminelle Leichtfertigkeit, mit der sich die deutsche Seite auf diesem Kriegsschauplatz so katastrophal und folgenreich verspekulierte, dass die Nachwirkungen Europa noch viele Jahrzehnte in Mitleidenschaft zogen und noch heute zu spüren sind. Denn anders als der Westfeldzug, dessen schneller Verlauf selbst die militärischen Planer überraschte, war der Feldzug gegen die Sowjetunion als "Blitzkrieg" von wenigen Wochen angelegt, entwickelte sich aber bald zum langwierigen Totalen Krieg und mündete schließlich in eine totale Niederlage - eine beinahe logische Konsequenz aus dem Zusammenprall zweier totalitärer Unrechtsstaaten.

Bereits die deutsche Kriegführung und Besatzungspolitik in Polen war mit Kriegsverbrechen und rassistischen Morden verbunden gewesen - anders als in Nord- und Westeuropa, wo das deutsche Vorgehen zunächst weitgehend im herkömmlichen Rahmen blieb. Doch erst auf dem sowjetischen Kriegsschauplatz wurden das Kriegsverbrechen zum Alltag und der Massenmord zum Genozid. Die Wehrmacht und ihre Helfer exekutierten die Kommissare der Roten Armee, verantworteten das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, saugten die besetzten Gebiete aus und terrorisierten die völlig entrechtete Zivilbevölkerung, die millionenfach dem Hunger preisgegeben, zur Zwangsarbeit versklavt oder im Partisanenkrieg getötet wurde. Im Rücken der Front, aber mit Unterstützung der Wehrmacht, ermordeten die Sicherheitspolizei und andere SS- und Polizeiformationen im ersten halben Jahr des Ostkriegs über eine halbe Million Sowjetbürger jüdischer Herkunft und eröffneten damit den systematischen Völkermord an den europäischen Juden. Dieses singuläre Mordprogramm kostete schließlich mindestens 5,6 Millionen Juden aus allen deutsch besetzten oder dominierten Staaten Europas das Leben. Die erhebliche Radikalisierung der nationalsozialistischen Expansions- und Rassenpolitik durch den Einfall in die Sowjetunion griff auf den ganzen deutschen Machtbereich über. Überall wurden nun die Menschen zur Zwangsarbeit gepresst und die materiellen Ressourcen geplündert, wenn auch in Ost- und Südosteuropa weiterhin und insgesamt rück-sichtsloser als in Nord- und Westeuropa. So sollte das "neue Europa" unter dem Hakenkreuz sein: ein einziges Ausbeutungsobjekt für die Kriegsmaschinerie und den Wohlstand des Großdeutschen, später des "Großgermanischen" Reichs, ein Kontinent, auf dem es nur noch Herren, Vasallen und Heloten gab, frei von "unnützen Essern", "unwertem Leben" und vor allem von Juden.

Die europäischen Nationen wurden nicht gefragt, ob sie in einem solchen Europa leben und sich einer solchen Rassenhierarchie einfügen wollten. Allerdings setzte das NS-Regime in seiner pervertierten Europapolitik nicht allein auf Terror, Mord und Unterdrückung, sondern daneben auf die werbende Kraft einer pseudo-abendländischen und pseudo-paneuropäischen Propaganda. Der Kampf gegen den "jüdisch-asiatischen" Bolschewismus wurde als "Kreuzzug" und lebensnotwendiges Anliegen ganz Europas stilisiert - nicht ohne Erfolg. Zehntausende Freiwillige aus allen Ländern und Regionen beteiligten sich auf deutscher Seite am Krieg gegen die Sowjetunion. Außerdem engagierten sich die verbündeten Staaten Finnland, Rumänien, die Slowakei, Ungarn und Italien keineswegs nur auf Druck der deutschen Vormacht im Ostkrieg, sondern auch aus Raubgier, Antikommunismus und Prestigedenken. Das erleichterte es den deutschen Aggressoren, den Eroberungsfeldzug gegen die Sowjet-union als europäischen Präventivkrieg darzustellen. Zugleich versäumten sie es jedoch, auch die "Ostvölker" durch positive Signale für die "Neuordnung Europas" unter deutscher Führung zu gewinnen. Erst viel zu spät wurden ukrainische, weißrussische und russische Antikommunisten als Bundesgenossen akzeptiert. Dass die nationalsozialistische Rassenlehre in den slawischen Ethnien vor allem ein Reservoir für Arbeitssklaven sah, behinderte die deutsche Propaganda für das "neue Europa".

60 Millionen Tote

Schließlich beendeten die harten Realitäten Hitlers Traum vom "Lebensraum im Osten", für den so viele Deutsche ihr Gewissen und schließlich ihr Leben hingaben. Parallel zur Inangriffnahme des verbrecherischen Raub-, Umsiedlungs- und Mordprogramms in Osteuropa kam es zur Globalisierung des Krieges durch den Eintritt Japans und der USA im Dezember 1941. Mit dieser Entwicklung und den Niederlagen der Wehrmacht gegen die Rote Armee bestanden kaum mehr Aussichten auf einen Erfolg Nazi-Deutschlands und seiner Partner, die vor den weit überlegenen Kräften der Westalliierten und der Sowjetunion Schritt für Schritt zurückweichen mussten. Dabei eskalierte auch auf den übrigen Kriegsschauplätzen immer mehr die Gewalt, ohne allerdings die Ausmaße der Geschehnisse an der Ostfront zu erreichen. Von den 60 Millionen Toten, die der Zweite Weltkrieg durch Kampf, Kriegseinwirkung, Völkermord, Flucht und Vertreibung forderte, kam der weitaus größte Teil in der zweiten Kriegshälfte um. Es ist bezeichnend für die kriminelle Energie des "Dritten Reichs", dass die Deutschen ihre verbrecherische Kriegs- und Besatzungspolitik desto ungehemmter vorantrieben, je mehr sie in die Defensive gedrängt wurden. Schließlich ging es nicht mehr um eine neue europäische Raumordnung mit Deutschland und seinen "Herrenmenschen" als Mittelpunkt, sondern nur noch um die möglichst spektakuläre Inszenierung des eigenen Untergangs, in den möglichst viele "Feinde" mitgerissen werden sollten. Während die Alliierten bereits die Nachkriegsordnung verhandelten und die Welt in Einflussräume aufteilten, arbeitete die deutsche Gesellschaft im Inferno des Bombenkriegs und kämpfte die Wehrmacht nahezu bis zur letzten Patrone nicht nur für eine verbrecherische, sondern für eine längst verlorene Sache. Der NS-Staat musste wie ein tollwütiges Tier quälend lange und vollständig vernichtet werden, ehe dem geschundenen Kontinent am 8./9. Mai 1945 endlich die Stunde der Befreiung schlug - wenn auch nicht überall von der Diktatur, so doch wenigstens überall vom Krieg und Völkermord.

Am Ende waren die Deutschen und ihr Reich durch das verbrecherische Streben nach einem europäischen Großraum unter "germanischer" Vorherrschaft, das sie unterstützt und mitgetragen hatten, vollständig diskreditiert. Die deutsche Katastrophe war nicht nur eine politische, sie war insbesondere auch eine moralische Katastrophe. Die deutsche Bevölkerung war nun das schwarze Schaf der Völkergemeinschaft, eine Nation von Tätern. Mit dieser - individuell natürlich sehr unterschiedlichen - Bürde und seinen Nachwirkungen müssen die Politik und Gesellschaft unseres Landes bis heute leben. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es nahezu ausgeschlossen, dass Deutschland jemals wieder eine alleinige Führungsrolle in Europa zufallen oder gar zugestanden wird. Als einzige erstrebenswerte Alternative gilt seither eine demokratische und multilaterale Einigung Europas ohne Dominanz eines einzelnen Staates. Dies ist eine der wichtigsten Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg, die sich nach 1945 allerdings mit dem Hegemonieanspruch einer anderen totalitären Macht konfrontiert sah: der Sowjetunion. Der nationalsozialistische Rassen- und Eroberungswahn hatte der sowjetischen Expansion die Tür nach Mitteleuropa geöffnet. Nachdem jetzt endlich auch das stalinistische und poststalinistische Modell der Hegemonie einer Diktatur über Europa ad acta gelegt ist, scheint der Weg frei zu sein für eine gesamteuropäische Einigung gleichberechtigter Staaten und Völker.


Dr. Johannes Hürter arbeitet am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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