Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 18 - 19 / 02.05.2005
Jens Martens und Achim Maas

Hoffnungen auf die Friedensdividende

60 Jahre Entwicklungspolitik der Vereinten Nationen
Unaufhaltsam nähert sich der "Millennium+5"-Gipfel der Vereinten Nationen im September dieses Jahres. UN-Generalsekretär Kofi Annan sieht in ihm eine historische Chance, bei der Verwirklichung der international vereinbarten Entwicklungsziele einen Durchbruch zu erreichen. Einige der diskutierten Ziele sind keineswegs neu, sondern haben in den Vereinten Nationen inzwischen eine lange Tradition. Das gilt insbesondere für das Ziel, die öffentliche Entwicklungshilfe der Geberländer auf 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens zu erhöhen. Dieses Ziel wurde schon in den 1960er-Jahren definiert und schließlich von der UN-Generalversammlung in Resolution A/RES/2626 (XXV) beschlossen - am 25. Jahrestag der Vereinten Nationen 1970.

Und auch davor war die Entwicklung der Länder des Südens für die Vereinten Nationen ein Thema. Mit der Dekolonisation in den 1950er- und 1960er-Jahren gewann die Entwicklungspolitik in den Vereinten Nationen an Bedeutung. Zum Ost-West-Konflikt des Kalten Krieges trat damals der Nord-Süd-Konflikt.

Entwicklungspolitik war implizit schon in der Charta der Vereinten Nationen von 1945 vorgesehen. "[…] den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern", wurde dort als Ziel benannt. In den Anfangsjahren konzentrierte sich die "Entwicklungshilfe" auf die technische Unterstützung beim Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Länder Europas. Im Zuge der Dekolonisation änderten sich die Mehrheitsverhältnisse in den Vereinten Nationen, die Entwicklungsinteressen des Südens traten in den Vordergrund. Im Dezember 1961 rief die Generalversammlung die 60er-Jahre zur Ersten Entwicklungsdekade der Vereinten Nationen aus. Damals dominierten modernisierungstheoretische Konzepte nachholender Entwicklung. Notwendig sei ein "big push" ausländischen Kapitals, um in den Entwicklungsländern den "take off" hin zu dauerhaftem Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Um diesen Trend zu unterstützen, wurde eine Reihe neuer Entwicklungsinstitutionen gegründet, allen voran die Internationale Entwicklungsorganisation (IDA) als Tochter der Weltbank 1960, das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) 1965 und die UN-Organisation für industrielle Entwicklung (UNIDO) 1966.

Im Laufe der Jahre wurde immer deutlicher, dass Grund für die Entwicklungsprobleme nicht allein der Mangel an Kapital war, sondern die internen Gesellschaftsstrukturen und die ungerechten Weltwirtschaftsbeziehungen wesentliche Entwicklungshindernisse darstellten. Die Folge waren Forderungen der Entwicklungsländer nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung und nach globaler Umverteilung der Ressourcen. Die Auseinandersetzungen zwischen Nord und Süd verschärften sich. Hauptschauplatz erbitterter Konflikte war in den 1970er-Jahren neben der UN-Generalversammlung die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD).

Am Ende scheiterten die Länder der Dritten Welt mit ihren Forderungen nach gerechteren Weltwirtschaftsstrukturen am Widerstand der Industrieländer. Durch die sich verschärfende Schuldenkrise gerieten sie in den 1980er-Jahren immer weiter in die politische Defensive und in wachsende Abhängigkeit zu ihren Gläubigern. Die entwicklungspolitische Meinungsführerschaft verlagerte sich in diesen Jahren zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), die im globalen Schuldenmanagement die zentrale Rolle spielten. Als politisches Ziele war in den 1980er- Jahren kaum noch von "Entwicklung", als vielmehr von "Strukturanpassung" die Rede. Die Vereinten Nationen verloren dagegen im Wirtschafts- und Sozialbereich zunehmend an Bedeutung.

Umweltschutz als neues Thema

Parallel zu den Auseinandersetzungen zwischen Nord und Süd tauchte Anfang der 70er-Jahre ein neues Thema auf der internationalen Agenda auf: Die Umweltpolitik. Spätestens mit der Stockholmer Umweltkonferenz 1972 wurde der Schutz der Umwelt zur Aufgabe der Vereinten Nationen erklärt. Ein Jahr später nahm das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) in Nairobi seine Arbeit auf. Im Laufe der folgenden Jahre leistete UNEP die Vorarbeiten für zahlreiche wichtige Umweltabkommen, wie die Konventionen zur biologischen Vielfalt, zum Klimawandel und zur Desertifikation. Dennoch gelang es nicht, UNEP zu einer wirklich schlagkräftigen Organisation auszubauen. Dem Programm fehlten die Durchsetzungs- und Kontrollkompetenzen gegenüber den mächtigen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen, aber auch gegenüber Regierungen und den immer einflussreicheren transnationalen Unternehmen. Es blieb zudem chronisch unterfinanziert und führte fast 20 Jahre innerhalb des UN-Systems ein (umwelt-)politisches Nischendasein.

Erst 20 Jahre nach der ersten Umweltkonferenz der Vereinten Nationen gelang es 1992 beim "Erdgipfel" in Rio de Janeiro, die globale Umweltpolitik aufzuwerten. Umwelt- und entwicklungspolitische Ziele wurden dort im Konzept der nachhaltigen Entwicklung (sustainable development) vereint. Im Kern versuchte der Ansatz von Rio den ganzheitlichen Charakter von Entwicklung zu betonen, indem er die Ziele ökologischer Tragfähigkeit, sozialer Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Effizienz sowie gesellschaftlicher Teilhabe und Demokratie miteinander verband. Die Agenda 21, das Aktionsprogramm der Rio-Konferenz, wurde in den 1990er Jahren zum wichtigsten Referenzdokument internationaler Umwelt- und Entwicklungspolitik.

Die 1990er-Jahre boten für die Vereinten Nationen Anlass zur Hoffnung: Der Fall der Mauer in Berlin 1989 und das dadurch eingeleitete Ende des Kalten Krieges versprach eine große Friedensdividende und die Chance, nach Überwindung des Ost-West-Konflikts endlich alle Energien auf die Überwindung der globalen Entwicklungsdisparitäten zu richten.

Weltkonferenzen

Mit einer Kette von Weltkonferenzen gewannen die Vereinten Nationen als Ort globaler Entwicklungspolitik wieder stärker an Bedeutung. Bei der Rio-Konferenz 1992 wurde eine Hauptursache der globalen Probleme in den nicht nachhaltigen Produktions- und Konsumformen des Nordens gesehen. Daraus folgte das in der Rio-Deklaration verankerte Prinzip der "gemeinsamen aber unterschiedlichen Verantwortung" für die Erhaltung der Ökosysteme der Erde, das erstmals in der Geschichte für die Industrieländer eine völkerrechtsverbindliche Verpflichtung zu Kompensationsleistungen und Ressourcentransfer begründete. Die Weltkonferenzen der darauffolgenden Jahre untermauerten den auf Rechtsansprüchen basierenden Entwicklungsansatz. Die Wiener Menschenrechtskonferenz betonte 1993 das Recht auf Entwicklung und die Bedeutung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, der Weltsozialgipfel von Kopenhagen unterstrich 1995 die sozialen Rechte der Arbeitnehmer, und die Pekinger Weltfrauenkonferenz bekräftigte im selben Jahr die Ziele der Nichtdiskriminierung und Gleichstellung der Geschlechter als Menschenrechte.

Aus diesen Ansätzen folgte die unmittelbare Verantwortung der Staaten zu handeln und die Verpflichtungen der Regierungen zu einer aktiven Wirtschafts-, Sozial-, Umwelt- und Entwicklungspolitik - auch auf multilateraler Ebene. Die Aktionsprogramme der Weltkonferenzen forderten daher unisono auch eine Stärkung der Vereinten Nationen im Wirtschafts- und Sozialbereich.

Die Aufbruchstimmung der Weltkonferenzen zerstob jedoch rasch. Denn parallel zu den eher wohlfahrtsstaatlichen ("sozialdemokratischen") Ansätzen der UN-Konferenzen gewannen in den 1990er Jahren die Ansätze neoliberaler Globalisierung, wie sie von IWF, Weltbank und der 1995 neugegründeten Welthandelsorganisation (WTO) propagiert wurden, weiter an Bedeutung. Sie setzten auf das Primat von wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum, die Öffnung der Märkte, Deregulierung und Privatisierung. Damit standen sie zum Teil in offenem Gegensatz zu den Politikrezepten der UN.

Um die konkurrierenden Entwicklungsansätze miteinander zu "versöhnen", bemühten sich seit Mitte der 90er-Jahre die Vereinten Nationen, die Weltbank und der IWF gemeinsam, ein Set von entwicklungspolitischen Kernzielen zu definieren, über die ein politischer Konsens bestand. Ergebnis waren die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs), die von den Staats- und Regierungschefs beim Jahrtausendgipfel der UN im September 2000 verabschiedet wurden. Dahinter verbirgt sich die Konzentration der Entwicklungspolitik auf ein Set von acht Zielen vor allem im Bereich von Armutsbekämpfung, Bildung und Gesundheit, die überwiegend spätestens bis zum Jahr 2015 verwirklicht werden sollen. Ziel Nummer 1 ist die Halbierung des Anteils derjenigen Menschen, die in "extremer Armut", das heißt für die meisten von ihnen, weniger als einem US-Dollar am Tag leben müssen.

Globale Koalition

Wohl noch nie gab es im entwicklungspolitischen Dis-kurs eine derartige Eintracht. Die Millenniumsziele werden - als scheinbar kleinster gemeinsamer entwicklungspolitischer Nenner - von einer breiten globalen Koalition getragen, die von der Bush-Administration in Washington bis zum Weltsozialforum in Porto Alegre reicht. Im September 2005 sollen auf einem weiteren Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in New York die nächsten Schritte zur Verwirklichung der MDGs und zu institutionellen Reformen der UN beschlossen werden. Kofi Annan hat dazu ein ambitioniertes Reformpaket vorgelegt. Ob es sich realisieren lässt, bleibt angesichts der eher trüben Bilanz von fast 60 Jahren Entwicklungspolitik unter dem Dach der Vereinten Nationen fraglich.

An Strategien und konkreten Konzepten mangelt es nicht. Entscheidend ist allein die Bereitschaft der Regierungen, über den Schatten kurzsichtiger Partikularinteressen zu springen und der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit größeres politisches Gewicht beizumessen. Das Motto der UN-Millenniumskampagne für den Gipfel im September 2005 steht jedenfalls seit längerem schon fest: An die Adresse der Regierungen gerichtet lautet es: "No excuse" - keine Entschuldigung mehr für gebrochene Versprechen!


Jens Martens ist Geschäftsführer, Achim Maas freier Mitarbeiter des "Global Policy Forum Europe".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.