Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 27 / 04.07.2005
Dirk Klose

"Mit stetigem Vertrauen kann ich nicht mehr rechnen"

Der Bundestag folgt der Absicht des Bundeskanzlers, über eine gescheiterte Vertrauensfrage Neuwahlen zu erreichen
Der Deutsche Bundestag hat Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) das Vertrauen entzogen. In einer von Schröder gestellten Vertrauensfrage, an der 595 der insgesamt 601 Mitglieder des Bundestages teilnahmen, stimmten am 1. Juli 151 Abgeordnete mit Ja, 296 mit Nein; 148 Parlamentarier enthielten sich der Stimme. Dieser vom Kanzler intendierte "negative Vertrauensbeweis" soll nach dem Wunsch der SPD-Führung den Weg für Neuwahlen ebnen. Schröder hatte sich kurz nach der Abstimmung bei Bundespräsident Horst Köhler eingefunden, um ihm die Auflösung des Parlaments vorzuschlagen.

Die Absicht, Neuwahlen für den Bundestag anzustreben, hatten der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering und Bundeskanzler Schröder bereits am 22. Mai, unmittelbar nach der Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen, bekanntgegeben. Sie begründeten ihre Überlegungen damit, dass angesichts der negativen Ergebnisse bei mehreren Landtagswahlen die rot-grüne Koalition eine deutliche Loyalitätsbekundung der Wählerinnen und Wähler für ihre Politik brauche und dass ferner die erdrückende Unionsmehrheit im Bundesrat jedes wichtige Vorhaben der Regierung blockieren könne.

Die überraschende Ankündigung stieß zwar in der Folgezeit auf verfassungsrechtliche Bedenken, doch wurde der Entschluss, Neuwahlen herbeizuführen, von allen Fraktionen im Bundestag begrüßt. Fristgerecht hatte Schröder am 27. Juni an den Bundestag den Antrag gestellt, ihm gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes das Vertrauen auszusprechen.

In seiner mit Spannung erwarteten Rede sagte Schröder, in der gegebenen Situation sei es seine Pflicht, sich im Deutschen Bundestag der Vertrauensfrage zu stellen. Nach den vergangenen Wahlniederlagen seiner Partei sei angesichts der gewandelten Kräfteverhältnisse eine Fortsetzung der Politik wie bisher nicht möglich. Eine neue Legitimation durch Wahlen sei unverzichtbar. Diesem Schritt stünden "keine zwingenden verfassungsrechtlichen Bedenken" entgegen. Er begründete sein Vorhaben mit den Widerständen gegen seine Reformpolitik nicht zuletzt innerhalb seiner Partei. Nach dem 22. Mai habe sich offen die Frage gestellt, ob der für seine Politik unabdingbare Zusammenhalt noch gegeben sei: Unter den aktuellen Verhältnissen könne er mit stetigem Vertrauen nicht rechnen.

Schröder verteidigte seine Politik mit der Bemerkung, im Innern sei das Land liberaler, toleranter und demokratischer geworden, nach außen selbstbewuss-ter, freier und geachteter in der Welt als je zuvor. Schröder weiter: "Es sind gute Jahre für unser Land gewesen; ich bin stolz darauf."

Hart ging Schröder mit der "destruktiven Blockadepolitik" des unionsbeherrschten Bundesrates ins Gericht. Der Union gehe es "ersichtlich" nicht um Kompromisse, sondern um "machtversessene Parteipolitik, die über die Interessen des Landes gestellt werden". Eine durch die Wähler neu und deutlich legitimierte Regierungspolitik werde, so Schröder weiter, auch bei der Union zu einem Überdenken ihrer Haltung führen, auch wenn sich die Mehrheitsverhältnisse nicht änderten. Neuwahlen könnten auch dazu beitragen, die Menschen aus ihren Ängsten und Bedrückungen zu lösen, die auch "durch das Niederreden unseres Landes durch die Opposition" entstanden sind: "Es ist eine Opposition, die sich fast jeder konstruktiven Zusammenarbeit mit uns verweigerte oder sie im Nachhinein desavouierte."

Merkel: Respekt vor Schröder

Die CDU-Chefin und Vorsitzende der Unionsfraktion Angela Merkel sagte in ihrer Erwiderung, die Vertrauensfrage des Kanzlers sei unausweichlich: "Für diesen Schritt zolle ich Ihnen auch persönlich Respekt, denn er ist unumgänglich, um unserem Land monatelange quälende Auseinandersetzungen wegen rot-grüner Handlungsunfähigkeit zu ersparen." Die Bundesregierung habe alles, was sie richtigerweise auf den Weg gebracht habe, letztlich wieder rückgängig gemacht. Vom Grundsatz her sei die Agenda 2010 "ein richtiger Schritt in die richtige Richtung"; seitdem habe es jedoch innerhalb der Koalition um jedes Detail ein schweres Ringen gegeben.

Die Oppositionsführerin wies den Vorwurf der Obstruktion entschieden zurück; nicht die Opposition, sondern "die eigene Opposition" in den Regierungsparteien habe vieles wieder zunichte gemacht. Jetzt sei es von entscheidender Bedeutung, wie es in Deutschland weitergehe: "Unser Land verträgt einfach keinen Zickzackkurs mehr. Dieses Land braucht eine Politik aus einem Guss, nicht Stückwerk."

Noch nie, so Frau Merkel weiter, habe eine Regierung so sehr das Vertrauen der Bürger verspielt wie jetzt Rot-Grün. Das Land könne sich kein weiteres verlorenes Jahr mehr leisten. Unter Hinweis auf die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik sagte sie: "Dort, wo die Union regiert, geht es den Menschen besser." Die Union brauche neben der schon vorhandenen Mehrheit im Bundesrat auch eine Mehrheit im Bundestag, um "klare Verhältnisse" zu haben, wobei eine Politik für Arbeit absolute Priorität haben müsse.

Nach Ansicht des SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering besteht gegenwärtig eine "besondere Situation". Sie gehöre "zu den Regeln der Demokratie" und rechtfertige die Vertrauensfrage als Weg zu Neuwahlen. Damit sei kein Misstrauen gegenüber dem Kanzler verbunden: "Wir sind uns einig in dem Bewusstsein, dass Gerhard Schröder als Bundeskanzler das Vertrauen der SPD-Bundestagsfraktion hat und dass wir ihn weiter als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland haben wollen." Neuwahlen seien der beste Weg zur Klärung der Situation.

Die mit der Agenda 2010 verbundenen Gesetze seien schwierige Gesetze gewesen, aber sie seien unverzichtbar: "Wir sind auf dem richtigen Weg; ich bin eher stolz darauf." Der Union warf Müntefering vor, auch bei den gemeinsam beschlossenen Reformen letztlich nur "Schwarz- und Trittbrettfahrer" gewesen zu sein. Rot-Grün habe Deutschland aus der Starre der 90er-Jahre herausgeführt, wovor sich die damalige Regierung stets gedrückt habe. Müntefering an die Oppositionsführerin gewandt: "Frau Merkel, mit Ihnen wird es kalt in Deutschland."

Auch die FDP sieht nach den Worten ihres Parteivorsitzenden Guido Westerwelle Neuwahlen als notwendig an: "Deutschland braucht einen neuen Anfang, und das geht nur mit einer neuen Regierung." Die jetzige habe ihre selbstgesteckten Ziele nicht erreichen können, weil ihr "die eigenen Leute von der Fahne gegangen sind". An die Regierungsbank gerichtet sagte er: "Sie sind gescheitert an der eigenen Mutlosigkeit und an Wankelmütigkeit, an der mangelnden Kraft, mehr als nur eine Schmalspur-Agenda zustande zu bringen." Seine Partei wolle einen Wechsel, damit Wirtschaften wieder vor Verteilen gesetzt werde und sich Leistung wieder lohne: "Jede soziale Gerechtigkeit muss erst einmal erwirtschaftet werden."

Der Vormann der Grünen, Bundesaußenminister Joseph Fischer, sagte, er sei stolz auf das in den vergangenen Jahren Erreichte. Mit Blick auf die Zurückhaltung der Regierung gegenüber der Irakpolitik der USA meinte er: "Bündnisloyalität geht für uns nicht über Vernunft." In seiner betont kämpferischen Rede forderte er die Opposition auf, präzise ihre wirtschafts- und finanzpolitischen Zielsetzungen zu nennen. CSU-Landesgruppenschef Michael Glos warnte den Kanzler vor seinem Koalitionspartner: "Mit einem solchen Haufen kann man wirklich nicht regieren."

Unmittelbar vor der Abstimmung übte der Bündnisgrüne und ehemalige DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz in einer persönlichen Erklärung heftige Kritik an Schröders Vorgehen. Er sehe darin eine "Sinnentleerung" von Artikel 68 des Grundgesetzes, die er nicht mitmachen könne: Auch in der Volkskammer seien die Abgeordneten eingeladen worden, nicht ihrer Überzeugung, sondern dem Willen der Partei und der Staatsführung zu folgen; "das ist ein würdeloser Abgang, den wir hier erleben".

Die Entscheidung darüber, ob es Neuwahlen im Herbst geben wird, liegt jetzt bei Bundespräsident Horst Köhler. Dafür hat er 21 Tage Zeit. Mehrere Abgeordnete, darunter Schulz, haben indes angekündigt, gegen eine Auflösung des Bundestages durch Köhler vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. In der Geschichte der Bundesrepublik ist erst zweimal mittels der Vertrauensfrage der Bundestag aufgelöst worden, um vorzeitige Neuwahlen herbeizuführen: 1972 schlugen Bundeskanzer Willy Brandt (SPD) und 1982 Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) diesen Weg ein.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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