Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 08.08.2005
Konrad Watrin

Die "Gucci-Revolution" im Libanon

Nach dem Abzug der Syrer zeichnet sich eine neue politische Dynamik ab

Euphorie schwang auf wie so oft im Orient, doch nicht so trügerisch. Zu Jahresbeginn noch drohten Bombenanschläge nach bewährtem Muster das Land nach 15-jährigem Wiederaufbau abermals zu destabilisieren. Erinnerungen an den gleichfalls 15-jährigen Bürgerkrieg wurden wach. Ein Anschlag riss am 14. Februar den ehemaligen Premier Rafik Hariri, einen ursprünglich prosyrischen, dann offenbar mit Damaskus zerstrittenen Geschäftsmann sowie 19 seiner Begleiter hinweg. Die Terrorkampagne indes - hinter der alle Welt Damaskus vermutet, was dort bestritten wird - erzielte wohl erstmals in Nahost nicht den gewohnt-gewünschten Effekt, dass alle Finger gen Israel zeigen. Vielmehr stand die bisherige Schutzmacht Syrien am Pranger. Offen wie nie zuvor traten hunderttausende Libanesen auf die Straße. Kurz nach der "orangenen Revolution" in der Ukraine schafften sie, was kein Geringerer als George W. Bush die "Zedern-Revolution" nannte. Andere sprachen dagegen von der "Gucci-Revolution".

"Morgenröte im Morgenland" titelte die deutsche Wochenzeitung "Jüdische Allgemeine" im März nach den Protesten, die noch vor den Parlamentswahlen vom Mai/Juni zum syrischen Truppenabzug führten - und keine drei Monate danach zur Bildung einer flugs als antisyrisch titulierten Regierung, deren Premier Fuad Saniora indes als erstes Damaskus seine Aufwartung machte. Nach dem teuer erzwungenen Regimewechsel zwei Jahre zuvor im Irak und etlichen Veränderungen in der Region erblickte die US-Regierung darin einen weiteren Mosaikstein der Neuordnung im Nahen Osten. Der libanesische Schriftsteller Abbas Beydoun, Feuilletonchef von "as Safir" und einer der einflussreichsten Intellektuellen der arabischen Welt, meinte zur neuen Lage im Land nichts weniger als dies: "Die Mauer ist eingestürzt, und der Weg ist frei geworden, um Totalitarismen zu besiegen und in die Gegenwart der heutigen Welt einzutreten."

Die Libanesen erkennen damit an, was in der oft gedemütigten, in permanentem Selbstbetrug (statt Selbstkritik) verfangenen arabischen Welt so beharrlich geleugnet wurde: Dass nicht allein die verhassten "US-Imperialisten" und Israelis Besatzer sein können, sondern auch ein arabisches Land, Syrien eben, dessen Regime der Aggressor Saddam Hussein zwar als politischer Rivale galt, dem Volke indes nach wie vor als antiamerikanischer und antizionistischer Volksheld. Zwischen der bisherigen, im Zeichen von Washingtons Anti-Terrorkampf nur mehr unter den Elenden, Verzweifelten und Verblendeten von Gaza bis Pakistan offen gezeigten Haltung und der mutigen Mentalität der Libanesen tut sich eine Wasserscheide auf, so hoch wie weiland zwischen den Israeliten und ihren pharaonischen Verfolgern im Roten Meer.

Oppositionsfront gegen die Syrer

Der Abzug war Grundlage für die Einigung dreier der vier großen konfessionellen Gruppierungen im Land. Die Hunderttausende der Oppositionsfront gegen die Syrer, trotz Reformansätzen unter dem jungen Baschar al-Assad einer der letzten intransigenten Feinde Israels, verkündeten in den Worten Beydouns "den Austritt des Libanons aus einer totalitären Politik, die das zivile Leben erdrückt, den Staat zur Scheinstruktur macht und die Gesellschaft durch ständiges Drohen mit dem Bürgerkrieg und äußeren Feinden in Schach hält". Inwieweit hinter der großen Klammer der antisyrischen Bewegung schon bald die alten Clans wieder auftauchen und die libanesische Gesellschaft erneut zu zerstückeln drohen, ist nun die Frage.

Bei den Parlamentswahlen, den ersten seit 30 Jahren ohne syrische Kontrolle, gewann die von Hariris Sohn Saad geführte Opposition gegen Syrien 72 der insgesamt 128 Sitze. Im Süden und im mehrheitlich schiitischen Bekaa-Tal eroberten die Schiiten 35 Sitze. Die Drusen gewannen in ihrem Stammland im Schuf-Gebirge, während die Maroniten überwiegend im christlichen Norden 21 Sitze bekamen. Nur die Schiiten setzten bisher voll und ganz auf die Syrer. Bei den Maroniten, die während deren Herrschaft eher im Untergrund operierten, ist der Hass gegen sie am stärksten. Sunniten und Drusen hatten zwar eher mit den Apparaten der Besatzungsmacht kooperiert, aber es bleibt nun bei allen dreien (außer den Schiiten) die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft in Frieden und Demokratie. Das Zusammentreffen dreier starker Gruppierungen indes bedeutet Stärke und Schwäche zugleich.

Verfeindete ethnisch-religiöse Gruppen

Zunächst schienen die ethnisch-religiösen Gruppen so verfeindet, dass nach dem 15-jährigen Gemetzel des Bürgerkriegs (1975 bis 1990) zwischen ihnen und ihren Milizen jedes künftige Zusammenleben undenkbar war. Seit 1975 - nach dem 1973 für die Araber erneut verlorenen Jom-Kippur-Krieg - kämpfte eine aus muslimischen, palästinensischen und "linken" Kräften gebildete nationale Bewegung gegen die Libanesische Front aus christlichen Gruppen, in der die rechtsextremen Phalangisten dominierten. Gegen das Morden, dem auch der Drusenführer Kemal Dschumblat zum Opfer fiel, intervenierte Syrien mehrfach. Ende der 70er-Jahre kamen Gefechte zwischen Sunniten und Schiiten, libanesischen und palästinensischen Gruppen, prosyrischen Amal- sowie proiranischen Hisbollah-Milizen hinzu. Eine UN-Mission scheiterte.

Israel unter Verteidigungsminister Ariel Scharon machte 1982 kurzen Prozess, besetzte Beirut vorübergehend, um die PLO zu vertreiben und bis zum Jahr 2000 im Südlibanon mit großen Verlusten Truppen zu stationieren. Der Libanon schien vollkommen zerfallen. Bis auch der Westen nach dem Ende des Bürgerkrieges 1990 und dem zweiten Golfkrieg 1990/91 die auch von der arabischen Welt gewollte syrische Präsenz guthieß, denn Hafis al-Assad war im Golfkrieg ein guter Verbündeter gegen den panarabischen Baath-Rivalen Saddam Hussein gewesen.

Nun haben sie die Positionen wieder nach dem alten Proporz- und Konkordanzsystem verteilt: der Präsident ist erneut ein Maronit, der Premier ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit. Entscheidend neben dem Konfessionalismus, der eine gewisse Teilung der Macht und Minderheitenschutz beinhaltet und die Diktatur einer ethno-religiösen politischen Gruppe oder Richtung ausschließt, sind freilich persönliche Macht sowie Beziehungen und Ansehen der jeweiligen Führer im In- und Ausland. Auch garantiert das Wahlsystem Muslimen und den christlichen Konfessionen die selbe Zahl an Sitzen. Offiziell sind 59 Prozent der Wahlberechtigten - etwa 675.000 Männer und Frauen - Muslime und 41 Prozent Christen. In Wahrheit dürfte die Zahl der Christen infolge des rapiden Bevölkerungswachstums zumal der Schiiten geringer sein.

Unangefochtene Führungsfigur der Sunniten ist Hariris zweiter, politisch unerfahrener Sohn Saad - pikanterweise mit einer Syrerin verheiratet. Er studierte in Washington an der Georgetown-Universität Wirtschaftswissenschaft. Seit zehn Jahren führt er das aus Bau- und Medienunternehmen seines Milliardärvaters bestehende Firmenimperium sowie seine eigene kleine Immobilienfirma im Wert von 140 Millionen Dollar. Der 35-Jährige hat lediglich angekündigt, die politischen und wirtschaftlichen Reformen des Vaters fortzuführen und die Wahlen im Zeichen dieses "Vermächtnisses" gewonnen. Rafik Hariri war im Herbst zurückgetreten, da Präsident Emile Lahoud und das damals ebenfalls mehrheitlich prosyrische Parlament seine Politik blockierten.

Ein Mann von gestern ist hingegen der ehemalige Oberbefehlshaber der libanesischen Armee, Michel Aoun. Auf den aus dem Pariser Exil zurückgekehrten General, den ehemaligen starken Mann der Maroniten, der für die Endphase des Bürgerkriegs schwere Verantwortung trug, setzten vor allem die amerikanischen Neokonservativen. Anders als 1990/91 - damals wurde Syrien gegen Saddam Hussein gebraucht - könnte dieser Haudegen und Syrienhasser im Kampf gegen den "Schurkenstaat" unter Sohn Assad nützlich sein, wie manche in Washington hoffen.

Ob von vorgestern oder von morgen - die wegen ihrer Terrorakte gefürchtete schiitische Massenorganisation Hisbollah unter Scheich Hassan Nasrallah, die sich in ihrer antiamerikanisch-antiisraelischen Kampfeshetze treu blieb und schon deshalb gegen die antisyrischen Massenproteste der Libanesen protestierte, ist durch den Abzug zunächst geschwächt. Nach Einschätzung von Abbas Beydoun scharen sich die Schiiten - die Mehrheit im Lande - aus Angst vor der drohenden Marginalisierung um sie. Mit ihrem sozial-karitativen Netzwerk aus Schulen, medizinischen Einrichtungen und einer eigenen Armee stellt sie weiterhin einen Staat im Staate dar. Zwar hat die Allianz aus Hisbollah und der gleichfalls schiitischen Amal-Bewegung von Nabih Berri bei den Wahlen sämtliche 23 Sitze im an Israel angrenzenden Süden erhalten, ihre weitere Rolle indes dürfte nicht zuletzt von der Entwicklung im Iran abhängen.

Insofern ist der Wandel des ganze 10.452 Quadratkilometer großen freihändlerischen Landes mit gerade einmal 3,5 Millionen Einwohnern, darunter knapp eine Viertelmillion Drusen, ein wichtiges Scharnier über das Mittelmeer hinaus. Beydoun: "Der Erfolg der libanesischen Demokratiebewegung wird mit Sicherheit das arabische Umfeld anstecken und die verängstigten arabischen Völker ebenfalls mobilisieren." Wie sehr die neue Dynamik in Nahost und möglicherweise auch das Attentat auf seinen Freund Hariri die Sicht mancher veränderte, zeigt allein dies: Einer amerikanischen Zeitung zufolge sagte der einstige Playboy Walid Dschumblat (58), Führer der Drusen und eher zu alt für die "Gucci-Revolution", mit "Iraqi Freedom" habe ein Paradigmenwechsel begonnen: "Als ich die Iraker vor einigen Wochen wählen sah, war das der Beginn einer neuen arabischen Welt."


Dr. Konrad Watrin ist Journalist, Autor und Lehrer. Er lebt in Aumühle bei Reinbek.


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