Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 42 / 17.10.2005
Claudia Heine

Wenn Danton nicht sterben darf

Frankreichs Nationalhelden im Film

Was wäre Jeanne d'Arc ohne ihre Verbrennung als Ketzerin? Was wäre die Französische Revolution ohne die Guillotine? Ohne ihre zahllosen Opfer auf beiden Seiten, ohne Danton und Robbespierre, aber auch ohne ein enthauptetes Königspaar, um nur die berühmtesten zu nennen. Und was wäre Napoleon ohne seine Verbannung auf St. Helena und seinen einsamen Tod dort? Natürlich liegt die historische Bedeutung dieser Personen nicht in ihrem Tod, jene von Ereignissen nicht in den Toten begründet. Aber: Kein Heldentum funktioniert ohne Leiden. Kein Mythos entsteht, wenn der Kampf, den er ausdrückt, nicht mit entsprechenden Opfern und Schrecken bezahlt wurde. Leicht errungene Siege taugen nicht zur Mythenbildung. Was zählt, ist der heldenhafte, unter Opfern und Rückschlägen erfolgte Einsatz bis zum letzten Moment, der ungebrochene Wille - dann schadet auch eine Niederlage der Mythenbildung nicht.

Mythen funktionieren also wie Filme, die ebenfalls auf einen dramaturgischen Spannungsbogen, der sich am Ende in die eine oder andere Richtung auflöst, angewiesen sind. Kein Wunder ist es also, dass sich schon Stummfilme mit jenem zum Mythos gewordenen Ereignis beschäftigten, das wie kein anderes Frankreichs Identität bis in die Gegenwart geprägt hat. Mit "Die Ermordung des Marat" oder "Robbespierres Tod" aus dem Jahr 1897 hielt die Französische Revolution Einzug in den französischen Film, und man könnte angesichts ihrer Tragweite annehmen, sie sei seitdem nie wieder von der Leinwand verschwunden. Doch dem war nicht so.

Der Erste Weltkrieg hatte gerade begonnen, da verboten die Behörden 1914 den Film "1793", der auf einer Romanvorlage von Victor Hugo beruhte. Anhand dreier Hauptpersonen, einem Adligen, einem Priester und einem jungen Offizier, der zwischen Parteinahme für die Republik und Mitleid mit den Opfern des Bürgerkriegs schwankt, schildert er die Zerrissenheit des Landes im historischen Moment. Die Präsentation eines solchen inneren Konfliktes wollte das Land in einer Zeit, in der es auf den Patriotismus aller angewiesen war, nicht riskieren.

Ein paar Jahre später diente der Mythos der Revolution wiederum der Beschwörung der Einheit der Nation, nur in umgekehrter Weise: nicht durch sein Verschweigen, sondern seine Instrumentalisierung. In den 30er-Jahren steckte das Land in einer tiefen politischen Krise, in der Kritik an Republikanismus und Parlamentarismus laut wurden und extreme Gruppierungen Zulauf erhielten. "La Marseillaise" wurde 1937 gedreht, zu einer Zeit als die Volksfront aus Sozialisten und Kommunisten an die Macht kam. Der von Arbeiterorganisationen mitfinanzierte Film von Jean Renoir thematisiert den Marsch einer Gruppe von Leuten aus verschiedenen Bevölkerungsschichten, die sich von Marseille nach Paris auf den Weg machen, um die Monarchie zu stürzen.

Im Zentrum steht die "Marseillaise", das Lied der Französischen Revolution, das hier von begeisterten Massen im Chor gesungen wird. Über die Ziele des Films sagte Renoir später: "Es war eine sehr enthusiastische Zeit, die Zeit der Volksfront, eine Art Feuerwerk vor der Katastrophe. In Frankreich glaubten wir damals, dass die Streitereien ein Ende hätten, dass wir zu einer gewissen Einigkeit aller Franzosen kommen könnten."

Die Verbindung von Filmen und Nationalmythen geht also weit über die Gemeinsamkeit eines dramaturgischen Spannungsbogens hinaus. Auch wenn der Film solche Mythen nicht geschaffen hat, so trug er doch wesentlich zu ihrer Verbreitung bei und wurde dafür auch gezielt eingesetzt. Denn ein Mythos wird nicht um seiner selbst willen bemüht, sondern um mit ihm Botschaften für die Gegenwart zu transportieren. Kein Medium ist dafür besser geeignet als das Massenmedium Film, und auch die französische Kinogeschichte ist reich an Beispielen dafür.

Als die Katastrophe 1945 überstanden war, verschwand auch die Französische Revolution wieder von der Leinwand. In den folgenden 40 Jahren tauchte sie nur noch in Form von politisch wenig aussagekräftigen Kostümfilmen auf. Das hatte, so vermutet es Rainer Rother in einem Aufsatz, folgenden Grund: 1940 besetzten nicht nur die Nationalsozialisten Frankreich. Es etablierte sich zugleich das System von Vichy, das sich von republikanischen Werten abwendete und mit den Nazis zusammenarbeitete. Die revolutionäre Tradition von 1789 erneut zu beschwören, hätte bedeutet, Vichy radikal zu verurteilen. Das lehnten viele Franzosen, die das Regime zunächst 1940 in ihrer breiten Masse akzeptiert hatten, damals jedoch noch ab.

Gleichzeitig wurde nach 1945 ein neuer Mythos geboren, und auch er diente wieder dem Ziel, gesellschaftliche Widersprüche zugunsten einer Beschwörung der Einheit aller Franzosen zu negieren. Die Résistance, jene Minderheit, die Vichy aktiv bekämpft hatte, erschien auch im Kino zunächst als heldenhafter Widerstandskampf aller. "La Bataille du Rail" ("Schienenschlacht") von 1945 thematisiert den Widerstand einer Gruppe von Eisenbahnern, denen es am Ende, nach einigen Rückschlägen, doch gelingt, einen deutschen Militärzug aufzuhalten und zu zerstören. Es geht einzig um die Schilderung der konkreten Aktion, wohingegen ihr Kontext ausgespart wird: In diesem Film fehlt nicht nur der Hinweis auf das Thema Kollaboration, es gibt hier auch keinen einzigen Verräter oder auch Anhänger von Vichy. Auf diese Weise postuliert der Film eine Einheit der Franzosen im Sinne der Résistance.

Das Tabu: Kollaboration

An dem Tabu der Kollaboration rüttelte erstmals Alain Resnais' Film "Nuit et brouillard" ("Nacht und Nebel") von 1955. Er zeigte inmitten eines deutschen Internierungslagers für jüdische Kinder in Frankreich auch einen französischen Gendarmen als Aufseher. Daraufhin wurde der Film Opfer der Zensur, die Behörden verlangten die Ausblendung der typischen Schirmmütze eines französischen Gendarmen. Auf breiterer Basis wurde der Mythos der Nachkriegszeit von der Einheit des Widerstandes erst nach 1968 hinterfragt. Für einen Skandal sorgte Marcel Ophüls' Film "Le chagrin et la pitié" ("Das Haus nebenan - Chronik einer französischen Stadt im Kriege") von 1971. Das Leben unter deutscher Besatzung, geschildert durch Interviews und Archivmaterialien, wird hier als eines der Anpassung an Vichy und die deutsche Besatzung beschrieben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hatten die Franzosen keinen Widerstand geleistet. Welch ein Tabubruch eine solche Aussage immer noch bedeutete, zeigt die Tatsache, dass französische Fernsehsender die Ausstrahlung des Films bis 1981 verweigerten.

Dennoch bewirkte die gesellschaftliche Atmosphäre im Gefolge der Studentenrevolten eine Enttabuisierung auf vielen Gebieten - auch in der Darstellung von Geschichtsmythen im Film. Mit "Lacombe Lucien" drehte Louis Malle 1973 einen viel diskutierten Film über einen Jungen, der aus einer Art Trotz heraus beginnt, mit den Nazis zusammenzuarbeiten und daraus private Vorteile zu ziehen versteht. Auch die Französische Revolution kehrte in den 70er-Jahren mit ihren Mythen auf die Kinoleinwand zurück. Und so konnte auch Danton im gleichnamigen Film 1982 wieder heldenhaft sterben, mit aufgeknöpftem Hemd auf seinem letzten Weg. Für Gérard Dépardieu allerdings war diese Rolle eine weitere Etappe zum Weltruhm.


Claudia Heine ist Redakteurin bei "Das Parlament".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.