Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 42 / 17.10.2005
Michael Meier

Bruchstücke der Wahrheit

Die Krisenherde dieser Welt im Film

Zur Zeit des Krieges in Vietnam dauerte es mindestens einen Tag, bis wir die Berichte der Korrespondenten in der "Tagesschau" sehen konnten. Heute sind wir live dabei, wenn - wie im Fall von Srebrenica - die Bewohner einer ganzen Stadt zu Geiseln genommen werden. Wenn in Afrika Tausende am Verhungern sind, ist auch der Mann mit dem Mikrofon in der Nähe. Ein Einheimischer wird interviewt, er sagt, dass er zuletzt nur noch Dreck gegessen habe, um wenigstens irgendetwas im Magen zu haben. Ein Bericht von eineinhalb Minuten Länge, sofort versendet in europäische Wohnzimmer, wo man vielleicht gerade gemütlich beim Abendessen sitzt.

Näher rücken uns internationale Krisenherde auch durch das Kino, das mehr als früher die Not der dort betroffenen Menschen zur Kenntnis nimmt. In den 50er- (Korea) und 60er-Jahren (Vietnam) waren Kriegsfilmen das Schicksal der Einheimischen nur ein paar Randnotizen wert. Die Plots aktuellerer Streifen hingegen bewegen sich oft weg von martialischen Harte-Männer-Geschichten und appellieren - zuweilen auch unangemessen melodramatisch - an das Mitgefühl des Publikums.

Achtung, Kitschalarm: Stellvertretend seien hier zwei Filme genannt, die Flüchtlingselend als schaurig-schicke Kulisse für pathosgetränktes Gefühlskino missbrauchen. Mit sehenswertem Dekolleté tapert Monica Bellucci als Dschungelärztin durch Antoine Fuquas Schmonzette "Tränen der Sonne" ("Tears of the Sun", 2003), in der sie nicht nur die Evakuierung von Nigerianern aus dem Bürgerkriegsgebiet durchsetzt, sondern auch für die Wandlung von dem von Bruce Willis gespielten Kommisskopp in einen fürsorglichen Menschenfreund verantwortlich ist. Ähnlich verlogen zeigt sich Martin Campbells - keine Peinlichkeit auslassende - Schnulze "Jenseits aller Grenzen" ("Beyond Borders", 2003), in der Angelina Jolies Liebe zu einem Arzt (Clive Owen) der Auslöser ist für aufopferungsvolle Jahre als UN-Helferin: Immer wieder reist sie mit Herzschmerz ihrem raubeinigen Samariter hinterher, von Äthiopien nach Kambodscha und zuletzt nach Tschetschenien, wo das Schicksal - leider 90 Minuten zu spät - mit harter Pranke zuschlägt.

Wenden wir uns mit Grausen ab von diesen Geschmacksverirrungen, die bedauerlicherweise aber von einem weitaus größeren Publikum wahrgenommen werden als kleine, authentische, sich weitaus differenzierter mit der Problematik befassende Streifen. Obwohl 2001 in Cannes mit dem Drehbuchpreis und 2002 mit dem "Oscar" für den besten nichtamerikanischen Film ausgezeichnet, ist bei uns zum Beispiel "No Man's Land" (2002) des Bosniers Danis Tanovic über den Status eines Geheimtipps nicht hinausgekommen. Statt der Multiplex-Tempel spielten ihn meist die Programmkinos vor einem Publikum, bei dem man Interesse für gesellschaftliche (Fehl-) Entwicklungen bereits voraussetzen kann.

Während des Krieges in Jugoslawien treffen im Niemandsland zwischen den feindlichen Linien zwei Soldaten, der eine Bosnier, der andere Serbe, aufeinander. Obwohl Feinde, hier in der Todeszone sind sie aufeinander angewiesen. Die diffizile Grundkonstellation wird noch komplizierter, als ein tot geglaubter Kamerad doch wieder erwacht - auf einer Mine liegend, die selbst Spezialisten nicht entschärfen können. Jede Bewegung könnte für den armen Schlucker den Tod bedeuten, ein Drama, das natürlich auch Heerscharen von Pressevertretern auf den Plan ruft.

Tanovic, der während des Konflikts auf dem Balkan als Kameramann für die bosnische Armee tätig war, unterlegt sein bitterernstes Thema mit rabenschwarzem Humor, überspitzt mit Skurrilitäten den Horror des Krieges und karikiert Auswüchse der modernen Mediengesellschaft. Das ist natürlich legitim, und durch so manche Ironisierung tritt die makabere Realität umso deutlicher zutage. Allerdings bleiben dem Publikum so auch die Protagonisten fern, ihr Schicksal berührt es nicht in dem vermutlich beabsichtigten Rahmen.

Letzteres gilt keinesfalls für zwei im Irak spielende Filme, die - stilistisch mit recht unterschiedlichen Mitteln - den Zuschauer regelrecht hineinziehen in ihre dramatischen Geschichten. Die Handlung der auf der letzten Berlinale vorgestellten iranisch-irakischen-französischen Koproduktion "Schildkröten können fliegen" ("Lakposhta ham parvaz mikonand", 2004) spielt in einem kurdischen Flüchtlingslager, in dem sich die Kinder mit Minenräumen ihr Taschengeld verdienen. Nahe der irakisch-türkischen Grenze warten die Menschen auf die Nachricht, dass die US-Truppen den Irak angegriffen haben. Angewiesen sind sie dabei auf einen "Satellit" genannten Jungen, der als eine Art post-apokalyptischer Peter Pan Fernsehantennen für die Patriarchen installiert.

In ebenso drastischen wie poetischen, in der Erinnerung haften bleibenden Bildern zeigt Regisseur Bahman Ghobadi, wie in karger Umgebung gesellschaftliche und familiäre Strukturen atomisiert werden, die Menschen aber dennoch versuchen, sich in ihrer Parallel-Welt zu arrangieren und inmitten von Dreck, Minenfeldern und altem Kriegsgerät zu einer, wie auch immer gearteten, Normalität zurückzufinden.

Unter die Haut geht auch ein früherer Film des Kurden Ghobadi, die Tragikomödie "Verloren im Irak" ("Gomgashtei dar Aragh", 2002). Abermals thematisiert er das Flüchtlingselend seines Volkes, dieses Mal in Form eines tragikomischen Roadmovies, dessen Helden (wie im Schildkröten-Film kann Ghobadi sich auf hinreißende Laiendarsteller verlassen) dem Chaos zunächst mit Humor begegnen.

Nach Ende des ersten Irak-Krieges gehen die Truppen Husseins brutal gegen die Kurden im Nordirak vor. Genau dorthin aber will Mirza mit seinen beiden erwachsenen Söhnen. Vor vielen Jahren hat ihn seine Frau verlassen, aber da er sie immer noch liebt, begibt er sich mit einem antiken Motorrad samt Beiwagen auf die ebenso beschwerliche wie gefahrvolle Suche. Die fast heitere Stimmung am Anfang ändert sich, je weiter die Odyssee in das Krisengebiet führt und Mirza und seine Begleiter an Lagern, in denen verzweifelte Kurden in Massengräbern nach ihren Angehörigen suchen, vorbeiknattern.

Eine ernüchternde und bewegende Hommage an den "Oskar Schindler Afrikas" gelang dem nordirischen Regisseur Terry George, der mit "Hotel Ruanda" ("Hotel Rwanda", 2004) einem echten Philanthropen ein filmisches Denkmal setzte. Der von Don Cheadle einfühlsam gespielte Paul Rusesabagina ist Hotelmanager in Kigali, als der bis heute kaum fassbare Völkermord der Hutus an der Tutsi-Minderheit beginnt. Rusesabagina ist selbst Hutu, ein Mann, der sich zu arrangieren versteht. Er, ein vergleichsweise wohlhabender Angehöriger der Mittelschicht, entspricht so ganz und gar nicht dem herkömmlichen Heldenbild. Er glaubt erst an den Genozid, als das Abschlachten schon begonnen hat und die UN-Blauhelme dem Gemetzel tatenlos zusehen. Von nun an versteckt er ohne Blick für die Gefahr Tutsis in seinem von Milizen belagerten Hotel, trickst, besticht, kauft Flüchtlinge frei und rettet durch seinen couragierten Einsatz mehr als tausend Leben. Kaum zu glauben: Die Geschichte ist wahr, nichts ist dazu erfunden.

"Hotel Ruanda" ist in mehrfacher Hinsicht ein beklemmender, außergewöhnlicher Film. Zum einen verzichtet Terry George auf die Darstellung von Grausamkeiten; dadurch entgeht er jeder Versuchung, sich spekulativ am Elend zu delektieren, ein Kniff, der sein Werk aber höchstens noch intensiver erscheinen lässt. Auch verschweigt er die Mitschuld der belgischen Kolonialmacht nicht, die mit ihrer Bevorzugung des zahlenmäßig kleineren Bevölkerungsteils der Tutsi der unheilvollen Entwicklung Vorschub leistete. Und er macht das blamable Verhalten der Schutztruppen der Vereinten Nationen, die während des Massakers zum großen Teil aus Ruanda abgezogen wurden, ebenfalls zum Thema. Die Begründung für den Rückzug liefert ein desillusionierter Blauhelm-Offizier, als er Hilfesuchenden erklärt: "Ihr seid nicht einmal Nigger, ihr seid bloß Afrikaner."

Zur Zeit des Völkermords in Ruanda spielt auch Raoul Pecks "Sometimes in April" (2004), der zeigt, was außerhalb des Ruanda-Hotels geschah. Im Gegensatz zu George erspart uns Peck einen genauen Blick auf das grauenhafte Geschehen nicht, etwa wenn eine Mädchenschule angegriffen wird oder ein kleines Kind inmitten von Leichenbergen spielt. Es ist interessant, die Geschichte eines furchtbaren Verbrechens aus völlig verschiedenen Blickwinkeln zu sehen und im Vergleich Schwächen und Vorzüge des jeweils anderen festzustellen. Dabei wird klar, dass man - sowohl hier als auch bei jeder anderen Dramatisierung historischer Ereignisse - stets nur Ausschnitte, nur Bruchstücke der Wahrheit gesehen hat. Vielleicht resultiert aus dieser Erkenntnis auch ein Teil des bitteren Nachgeschmacks, mit dem man nach dem Sehen solcher Filme das Kino verlässt.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.