Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 42 / 17.10.2005
Igal Avidan

"Wir wurden nicht als Mörder geboren, erst der Bürgerkrieg hat aus uns Mörder gemacht"

Zwei Filme aus Israel und dem Libanon packen heiße Eisen an

Im Januar 2002 verfassten 51 israelische Frontkämpfer einen offenen Brief, in dem sie erklärten, dass der Militärdienst in den besetzten Gebieten unmoralisch und undemokratisch sei und die Sicherheit Israels beeinträchtige. Sie brachen damit mitten in der zweiten Intifada mit dem israelischen Konsens, in kriegerischen Zeiten bedingungslos zusammenzuhalten und jegliche Kritik an der Armee zu unterlassen. Sechs junge Soldaten, vier von ihnen Offiziere, rückt Filmemacherin Shiri Tsur in den Mittelpunkt ihrer Dokumentation "Ich wollte ein Held werden".

Tsur sagt, sie war sehr überrascht, weil die Unterzeichner nicht die gewöhnlichen linken Aktivisten waren, sondern aus der Mitte der Gesellschaft und des Militärs kommen - Frontkämpfer aus Eliteeinheiten sowie Piloten, die ihren Reservedienst leisteten. "Diese neuen Stimmen interessierten mich, zumal sie in meinem Alter sind und - so wie ich - in die Besatzung hineingeboren wurden. Sie waren wie meine Brüder."

Der Filmtitel stammt von einem der Protagonisten, die vor der Kamera erklären, warum sie so lange mit sich haderten, bevor sie den öffentlichen Bruch wagten. Dabei betonen die Soldaten, dass sie weiterhin an den Zionismus und die Armee glauben, nicht jedoch an eine Besatzungsarmee. Der dekorierte Kampfpilot Tomer Inbar sagt im Film: "Ich kann nicht in einer Armee dienen, die systematisch Menschenrechte verletzen muss. Ich erwarte, dass der Staat, an den ich glaube, alles unternimmt, um diese schreckliche Situation zu beenden. Wenn das so weitergeht und sich keiner daran stößt und meine Kritik ignoriert wird, dann stehe ich auf und erkläre öffentlich, dass ich diesen Dienst verweigere."

Shiri Tsur hat bewusst Soldaten ausgesucht, die sich mit ihrer Trennung von der Armee schwer tun, und die für ihren Protest von der Gesellschaft geächtet werden. Tomer Inbar erhält keine Stelle als Pilot, wird in seinem Kibbutz zur Persona non grata erklärt und verlässt schließlich Israel. Seine Kollegen sehen ihre Proteste gegen die Besatzung und für die Menschenrechte der Palästinenser als einen patriotischen Akt. Die Kamera begleitet sie zwei Jahre lang auf politische Kundgebungen sowie in ihr Privatleben. Befragt werden Lebenspartnerinnen und Eltern. Die Zuschauer erfahren einiges über unmenschliche Aktionen israelischer Soldaten, die - wie das tödliche Verhör eines 14-jährigen Palästinensers -, auch wenn sie Ausnahmen sein sollten, beweisen, dass eine Besatzung nicht moralisch sein kann.

Unterstützung erhielt die Regisseurin sogar durch die Armee, nur die Fernsehsender boykottierten das Filmprojekt. Sowohl der staatliche Kanal als auch die privaten Sender lehnten eine Ausstrahlung ab. Sie wollten die Gräueltaten israelischer Soldaten gegen palästinensische Zivilisten, wie sie einige der Protagonisten im Film schildern, nicht zeigen. Lediglich auf dem Jerusalemer Filmfestival, in der Kinemathek und in einem kleinen Tel Aviver Kino ist das Porträt der protestierenden israelischen Helden zu sehen. "Eine vernünftigere Gesellschaft hätte sich mit den Problemen durch den Film auseinander gesetzt," schrieb der israelische Filmkritiker Meir Schnitzer in "Maariv". "Aber hier bevorzugt man eine hysterische Reaktion auf ein pluralistisches Denken."

Auch in dem Dokumentarfilm "Massaker" der Deutschen Monika Borkmann und Hermann Theissen und des Libanesen Lokman Slim packen ehemalige Kämpfer aus. Hier sind es christliche Libanesen der Forces Libanaises. Sie erzählen über ihre Teilnahme an dem Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila. "Wir wurden nicht als Mörder geboren, erst der Bürgerkrieg hat aus uns Mörder gemacht", sagt einer der Täter.

Am 14. September 1982 wurde der neue christlich-libanesische Präsident Baschir Gemayel durch eine Explosion ermordet. Die Palästinenser standen in Verdacht, den Mord an ihrem politischen Gegner ausgeführt zu haben. Das Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila wird daher als Racheaktion verstanden. Am folgenden Tag wurden die Lager in Westbeirut von israelischen Truppen umstellt, nach Aussagen von Ariel Scharon, um verbleibende Milizen zu entwaffnen. Am Abend des 16. September wurden christliche Milizen in die Lager geschickt, um die Entwaffnung der dort vermuteten militanten Palästinenser durchzuführen. Die Milizen durchkämmten die Lager und töteten wahllos die zumeist völlig unbewaffneten Insassen, einschließlich der Frauen, Kinder und Alten. Viele der Opfer wurden außerdem verstümmelt. Dies geschah in voller Sicht israelischer Beobachtungsposten, die auch Leuchtraketen abfeuerten sowie die Lagerausgänge abriegelten.

Erst am Morgen des 18. September fand das Töten ein Ende, nach verschiedenen Schätzungen waren von den gerade einmal 150 beteiligten Milizangehörigen rund 750 Personen ermordet worden. Der damalige israelische Verteidigungsminister Ariel Scharon wurde von einer israelischen Untersuchungskommission für das Massaker mitverantwortlich gemacht und musste seinen Posten räumen. Die Kommission sprach ihm zudem grundsätzlich die Fähigkeit ab, das Verteidigungsministerium führen zu können.

Anders als die Israelis in Tsurs Dokumentarfilm bleiben sie anonym, und ihre Gesichter sind nicht zu erkennen. "Da keine Namen genannt und keine Gesichter gezeigt wurden, war die Körpersprache das ästhetische Konzept," erzählt Borkmann. "Um diese besser zu sehen, haben wir für sie gleiche Unterhemden gesucht." Allein durch ein Tattoo kann man einiges über Geschichtsschreibung im Libanon erfahren: Der Kopf des christlichen Präsidenten Baschir Gemayel wurde mehrmals übertätowiert und unkenntlich gemacht.

Die muskulösen Männer, die mal rauchen, mal Kaffee trinken, geben detailliert Auskunft über ihre Zeit als Jugendliche und erzählen von ihrem Leben auf der Straße. Davon, wie sie Drogen nahmen und den Krieg gegen die Palästinenser liebten, ohne wirklich zu begreifen, dass sie Menschen erschossen. "Die Befehle des Milizenchefs Elie Hobeika lauteten: Lasst niemand am Leben und macht die Lager dem Erdboden gleich!", erzählt ein Täter. "Die Ersten erschoss ich gegen den eigenen Willen", berichtete ein anderer. "Beim Zweiten und Dritten fiel es mir etwas leichter. Beim Vierten hatte ich bereits regelrecht Spaß daran." Ein Dritter berichtete, wie er ein weinendes blondes Mädchen, das um sein Leben bettelte, erst vergewaltigte und dann erschoss.

Seit der Amnestie für alle Kriegsverbrecher 1991 leben die libanesischen Mörder mitten in der Gesellschaft, gehen aber unter im allgemeinen Schweigen über den Bürgerkrieg. Daher hat die Produktion von "Massaker" drei Jahre gedauert, sagt Borkmann. "Das Schwierigste war es, Vertrauen zu den Protagonisten aufzubauen. Das haben wir geschafft, indem wir ihnen das Gefühl gegeben haben, dass wir mehr oder weniger neutral sind. Wir haben wirklich keine moralischen Positionen eingenommen."

Dass der Film, wenn er im Libanon überhaupt gezeigt wird, einen erneuten Bürgerkrieg anzetteln könnte, befürchtet der libanesische Co-Autor Lokman Slim nicht. Vielmehr sei er ein erster Schritt in Richtung Normalisierung und Demokratisierung. Am 25. September wird "Massaker" zum ersten Mal im Libanon gezeigt, und zwar in Beirut im Rahmen des Film-Festivals "Zivile Gewalt und Kriegserinnerungen". Die deutsch-libanesisch-französisch-schweizerische Produktion schreibt nicht nur Geschichte, indem das Tabu des blutigen Bürgerkriegs im Libanon gebrochen wird.

Historisch war auch die Aufführung des Films in Israel auf dem Film-Festivals der Kleinstadt Sderot im Juni dieses Jahres, auf Arabisch mit hebräischen Untertiteln. "Natürlich wird dieser Film helfen, Tabus zu brechen, was immer gut ist", sagt Lokman Slim. "Tabus unter Libanesen, aber auch unter Palästinensern und Israelis, die an diesem Ereignis beteiligt waren. Keine der drei Seiten hat sich damit wirklich auseinander gesetzt. Eine Normalisierung der Situation im Libanon unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen kann nicht durch das Vergessen oder das Verdrängen geschehen. Vielleicht kann dieser Film Diskussionen anregen, die seit 20 Jahren unterdrückt werden."


Igal Avidan ist Deutschland-Korrespondent des "Jerusalem Report".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.