Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 42 / 17.10.2005
Barbara Scheizerhof

Die mächtige Waffe names Zelluloid

Kunst mit Massenwirkung: Zum Verhältnis von Film und Politik
Film ist eine Kunst mit Massenwirkung. Das belegt nicht nur die Tatsache, dass von allen Kunstsparten hier am meisten Geld ausgegeben wird. Auch die Durchdringung des globalen kulturellen Raums zeigt eine gewisse Vorherrschaft an: Ob auf einem Basar in Mittelasien oder einem Markt in Afrika, ob in Sibirien oder Lateinamerika - die Wahrscheinlichkeit, auf jemanden zu treffen, der "Terminator" Arnold Schwarzenegger oder "Pretty Woman" Julia Roberts kennt, ist relativ groß.

Schon in dieser kulturellen Hegemonialstellung steckt eine politische Wirkung. Deren Agenda lässt sich vage mit "westlichem Lebensstil" umschreiben. Von den Filmproduzenten aus Hollywood wird sie absichtlich heruntergespielt unter der Vorgabe, man habe nur "Unterhaltung" im Sinn. Die geistigen, kulturellen und politischen Eliten jenseits des Westens sehen das oft anders; in ihren Augen bildet das Kino eine ungeheuer nachhaltig wirkende Waffe im "Kampf der Kulturen", dem mangels Ressourcen vor Ort meist nur Ungenügendes entgegengesetzt werden kann.

In der Sowjetunion wurde einst versucht, durch gezieltes Kopieren gewisser Hollywoodrezepte einen eigenen populären Kanon zu erzeugen, der dem westlichen Einfluss sozusagen durch Besetzung von Positionen Einhalt gebietet. Inwiefern das gelang, ist bei Wissenschaftlern umstritten. Es gibt jedoch einige, die das Ende des real existierenden Sozialismus in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausbreitung des Videomarktes seit den frühen 80er-Jahren sehen. Was die Menschen sich als private Kopien in ihren Wohnzimmern anschauten, war damit nicht mehr zu regulieren - der "westliche Lebensstil" aber triumphierte in Form von illegalen Importen und Schwarzkopien erst recht, da die "legale" einheimische Filmproduktion die Einführung von Videos fast gänzlich versäumte.

Innerhalb der westlichen Hemisphäre wird ironischerweise genau dieses affirmative Moment der großen Hollywoodproduktionen oft als "unpolitisch" kritisiert. Die Macht des Kinos für ein Engagement zu nutzen, das einer gerechteren Sache dient als der Glorifizierung des "westlichen Lebensstils", ist deshalb immer wieder ein Anliegen sich als fortschrittlich begreifender Filmemacher.

Den vielleicht größten Erfolg damit hatte Michael Moore im vergangenen Jahr mit seinem viel diskutierten Dokumentarfilm "Fahrenheit 9/11". Seine Geschichte zeigt aber zugleich auch die Krux des politisch engagierten Films auf: Im Mai 2004 bekam Moore die goldene Palme der Filmfestspiele in Cannes verliehen; es war ein Triumph des politischen Films über das Kunst- und Autorenkino.

Moores Film war der Film der Stunde: Er war Anti-Bush, Anti-Irak-Krieg, einigermaßen aufklärerisch und sehr unterhaltend. Zusätzlich motiviert von der Publicity in Europa bemühte Moore sich darum, seinen Film rechtzeitig vor den Präsidentenwahlen im November in den USA ins Kino bringen. Nach einer Auseinandersetzung mit dem Mutterkonzern Disney gelang ihm das auch - allerdings musste "Fahrenheit 9/11" sozusagen erst frei gekauft werden. Die Kontroverse wirkte sich als positiver Werbeeffekt aus - binnen kurzem brach der Film sämtliche Rekorde, die es je für Dokumentarfilme gegeben hatte, und spielte das Traumergebnis von über 100 Millionen Dollar ein. Dann aber gewann George W. Bush die Wahlen trotz alledem. Es zeigte sich, dass Moore offenbar lediglich das Publikum ins Kino gebracht hatte, das sowieso mit ihm einverstanden war. So wichtig diese Art der Selbstvergewisserung auch ist, lassen sich mit einem Dokumentarfilm eben doch keine politischen Umschwünge herbeiführen.

Das ebenfalls sensationelle Einspielergebnis eines anderen "Independent"-Films, der wenige Monate vor "Fahrenheit 9/11" in den USA in die Kinos gekommen war, hätte übrigens einen wichtigen Hinweis auf den wahren Ausgang der Wahlen geben können: Mel Gibsons Verfilmung der letzten Stunden im Leben Jesus', "The Passion of the Christ" spielte locker das Dreifache von "Fahrenheit 9/11" ein - und das ebenfalls ganz ohne werbende Unterstützung eines großen Studios. Nun war "The Passion of the Christ" kein im eigentlichen Sinn politischer Film. Für die Zuschauer in Amerikas berüchtigtem "Bible Belt" aber wurde der Besuch dieses umstrittenen Werks, dem sowohl seine exzessive Gewaltdarstellung als auch antisemitische Tendenzen vorgeworfen wurden, durchaus zu einer politischen Demonstration.

Bei aller Unterschiedlichkeit haben "The Passion of the Christ" und "Fahrenheit 9/11" eines gemeinsam: In 50 Jahren wird ihr politischer Impetus kaum mehr sichtbar sein. Sicher hat Gibsons Film die größeren Chancen, auch noch von nachfolgenden Generationen betrachtet zu werden, und sei es in Vergleichsstudien über die lange Liste der "Jesusfilme". "Fahrenheit 9/11" dagegen mit seinen Andeutungen und ironischen Zuspitzungen, mit seinem ganz auf die Gegenwart gerichteten Kommentar wird man schon in wenigen Jahren nur noch stellenweise verstehen können. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass Michael Moore als Filmemacher dann plötzlich neu entdeckt wird - nicht mehr als Agitator, sondern als Meister der Collage und genial mit den Mitteln der Wirklichkeit hantierender Komiker. Mit anderen Worten: Man begänne in ihm nicht mehr nur den Polit-, sondern den Kunstfilmer zu sehen.

Den Weg von der Politik zur Kunst haben bereits viele engagierte Filmbewegungen hinter sich. Sergej Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin" ist heute die Lehrbuchvorlage einer bestimmten Montagetechnik, der agitatorische Inhalt des Films wird kaum noch bemerkt. Die Filme des italienischen Neorealismus, einst wahrgenommen als flammende Plädoyers gegen herrschende soziale Verhältnisse, gelten dem Publikum der Gegenwart als schwerblütige Melodramen. Der "Spülstein-Realismus" des britischen Kinos der frühen 60er wiederum wirkt heute ungeheuer intellektuell und abstrakt. Was man an dieser Aufzählung auch sehen kann: Mehr Engagement, mehr Politik in den Filmen, das war immer wieder mit der Forderung nach mehr Realismus verbunden. In der historischen Perspektive aber relativieren sich die "Realismen" zu ästhetischen Konzepten einer bestimmten Epoche.

Gewohnheitsmäßig werden Politik und Kunst als feindselig gesetzt. Dabei ist es nicht das Politische, das Filme "unkünstlerisch" macht, sondern das Ideologische. Kunst steht für Offenheit, für Risiko, dafür, dass man auch den Blick in den Abgrund wagt, und vor allem: immer wieder die eingeschliffenen Sichtweisen revolutioniert. Ideologie arbeitet genau dagegen an. Sie hält an Perspektiven fest, will sie vorschreiben. Sichtweisen zu revolutionieren ist deshalb per se ein politischer Akt. So betrachtet gibt es im Grunde kein unpolitisches Kino.


Barbara Schweizerhof ist Kulturredakteurin bei der Wochenzeitung "Freitag" in Berlin.


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