Nur zwei Tage nach der friedlichen Parlamentswahl vom 27. November kehrte der blutige Alltag nach Tschetschenien zurück. Rebellen erschossen im Dorf Awtury, rund 30 Kilometer südöstlich von Grosny, den Bürgermeister und seinen Sohn in ihrem eigenen Haus. Sieht so also die "wieder hergestellte verfassungsmäßige Ordnung" aus, zu der Russlands Präsident Wladimir Putin am Tag nach der Wahl gratulierte?
Dass die Wahl in Russlands Unruheprovinz überhaupt glatt über die politische Schaubühne gegangen war, feierte Tschetscheniens Präsident Alu Alchanow bereits als "Beweis für die Stabilität der Republik". Das Wunschziel, ein deutlicher Sieg der Kreml-Partei "Einheitliches Russland", ist zwar erreicht, doch von tatsächlichem Frieden und Stabilität gibt es keine Spur. Das letzte gewählte tschetschenische Parlament brach Ende 1999 unter den Bomben des zweiten Tschetschenienkrieges, den Putin noch als Ministerpräsident befohlen hatte, auseinander. Der Feldzug kostete Zehntausende das Leben und legte die kleine Republik - so groß wie Thüringen - erneut in Trümmer. Den damals unbekannten und farblosen Putin machte der Krieg indessen populär und hievte ihn schließlich auf den Präsidentensessel im Kreml. Offiziell gilt der Krieg, den Moskau stets als "Antiterroroperation" bezeichnet hatte, seit vier Jahren als beendet. Tatsächlich geht der bewaffnete Untergrundkampf bereits ins siebte Jahr.
Die jüngste Parlamentswahl, bei der knapp 600.000 Wahlberechtigte aufgerufen waren, 58 Abgeordnete für ein neues Parlament zu bestellen, ist aus Sicht des Kremls der abschließende Akt, die Trümmerlandschaft Tschetscheniens nach den Interessen Moskaus politisch neu zu ordnen. Den Anfang machte die Volksabstimmung über eine neue Verfassung im März 2003. Nach offiziellen Angaben stimmten damals 95,5 Prozent für eine neue Verfassung und den Verbleib Tschetscheniens in der Russischen Föderation. Im Oktober 2003 ließ der Kreml seinen loyalen Statthalter in Tschetschenien Achmad Kadyrow zum Präsidenten wählen. Doch der einstige Mufti von Tschetschenien, der im ersten Krieg noch gegen die Russen gekämpft hatte, überlebte nicht einmal das erste Jahr im Amt. Nachdem der von vielen Tschetschenen verhasste Präsident im Mai 2004 bei einem Bombenanschlag starb, rief der Kreml die Bevölkerung erneut an die Urnen, um den ehemaligen Innenminister Alu Alchanow an die Spitze der Republik zu wählen. Wie schon bei der vorherigen Wahl wurden alle anderen aussichtsreichen Gegenkandidaten aus zum Teil fadenscheinigen Gründen frühzeitig aus dem Rennen genommen. Bei allen drei Abstimmungen wurde das vom Kreml erwünschte Ergebnis unabhängigen Wahlbeobachtern zufolge nur durch massive Manipulationen erzielt.
Der derzeitige Präsident Alchanow gilt nur als eine Übergangsfigur. Der mächtige Mann Tschetscheniens heißt Ramsan Kadyrow, Sohn des ermordeten Präsidenten und Kommandeur einer gefürchteten Privatarmee, die für viele Greueltaten in Tschetschenien verantwortlich gemacht wird. Bis zu 5.000 Mann soll der 29-Jährige unter Waffen haben. Kadyrow junior, von Putin als "Held Russlands" ausgezeichnet, wird vom Kreml protegiert. Nur sein Alter - die Verfassung schreibt ein Mindestalter von 30 Jahren vor - hält ihn vom Präsidentenamt fern. Um bei der jüngsten Wahl ein möglichst loyales Parlament zu bestellen, ließ Kadyrow in allen Parteien mehrheitlich seine Anhänger auf die Wahllisten setzen. Offenbar mit Erfolg, wie das hohe Wahlergebnis zugunsten der Kreml-Partei "Einheitliches Russland", deren Parteibuch auch Kadyrow trägt, zeigt.
Das Plansoll ist erfüllt: Formal hat der Kreml sein Ziel der "Normalisierung" der geschundenen Kaukasusrepublik erreicht. Putin hat die Befriedung des Konfliktes in örtliche Hände - von ihm ernannte Gewährsleute - gelegt und die politische Selbstverwaltung wieder hergestellt. Doch diese Lösung ist der "potemkinsche" Versuch, die anhaltende Gewalt und Instabilität in Tschetschenien zu kaschieren. Eine bedeutende Rolle dürfte diese frisch gewählte Volksvertretung kaum spielen.
Denn die wahre Macht geht in Tschetschenien nicht von politischen Institutionen, sondern von den Waffenträgern aus. Und hier haben sich in den vergangenen drei Jahren die Gewichte verschoben: Von der russischen Streitmacht zu Ramsan Kadyrows Privatarmee, die das Land mit Morden und Entführungen in Atem hält. Um die tschetschenischen Rebellen in den Bergen zum Aufgeben zu bewegen, sind Kadyrows Milizen dazu übergegangen, Familienangehörige der Rebellen als Geiseln zu nehmen. Beinahe täglich verschwinden in Tschetschenien unschuldige Zivilisten. De facto herrscht in der Republik ein Regime der Angst und der absoluten Rechtlosigkeit.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schätzt, dass in Tschetschenien seit Beginn des zweiten Krieges zwischen 3.000 und 5.000 Menschen "verschwunden" sind. Parallel vergehen sich russische Soldaten weiterhin an der Bevölkerung, ohne eine Strafverfolgung fürchten zu müssen. So wurden erst vor zwei Wochen drei Zivilisten an einem russischen Armeeposten erschossen, weil sie sich geweigert hatten, den betrunkenen Soldaten ein Schutzgeld zu zahlen. Die andauernde Willkür und Gewalt aber führt den Rebellen immer wieder frischen Nachwuchs zu.
Der Konflikt in Tschetschenien läuft schon längst nicht mehr ausschließlich entlang ethnischer Linien. Der Zustand "weder Krieg noch Frieden" ist für viele lukrativ, die schwarz gefördertes Öl verkaufen oder Wiederaufbaugelder veruntreuen. Russische Soldaten und Angehörige aus der tschetschenischen Zivilverwaltung verdienen sich bei krummen Geschäften eine goldene Nase. Der eigentliche Wiederaufbau des zerstörten Landes findet höchstens auf dem Papier statt.
Über alldem hält ganz offenbar der Kreml seine schützende Hand. Und Präsident Putin dürfte über die katastrophale Lage im Nordkaukasus bestens informiert sein. Erst kürzlich hatte Dimitri Kosak, ein hoher Staatsbeamter und Putins Sonderbeauftragter für den Süden Russlands, treffend analysiert, dass nicht der islamistische Terror oder die Radikalisierung der Kämpfer für die explosive und destabilisierende Lage verantwortlich seien, sondern in erster Linie die korrupten lokalen Eliten, also die Vertreter der russischen Staatsmacht. So verkommen Tschetschenien und inzwischen auch die Nachbarrepubliken immer mehr zum Armenhaus unter politischer Willkür. Die Folge, so Kosak, sei nur eine weitere Radikalisierung innerhalb der Bevölkerung. Doch im Kreml stieß diese Analyse offenbar auf taube Ohren. Von Frieden ist Tschetschenien nach wie vor weit entfernt. Die Zeichen im Kaukasus stehen eher auf Sturm.