Ostdeutschland im Jahre 2010: Die chinesische Sonderwirtschaftszone Halle wird in der amerikanischen Zeitschrift "Foreign Affairs" als erfolgreiches Beispiel dafür beschrieben, wie dem Niedergang einstiger Industrieregionen entgegen gewirkt werden kann. Der verschärfte Wettbewerb zwischen globalen Produktionsstandorten habe dazu geführt, dass Deutschland vor einigen Jahren einen Teil seines Staatsgebietes an China hätte vermieten müssen. Als Vorteil habe sich herausgestellt, dass bei den Bewohnern Ostdeutschlands noch Sympathien für ein kommunistisches System vorhanden gewesen seien. Dies habe es der Politik einfacher gemacht, schreibt die Zeitschrift, das neue Konzept exterritorialer Gebiete durchzusetzen.
Keine Angst. Dieses Szenario beruht nicht auf einer geheimen Zusatzklausel im schwarz-roten Koalitionsvertrag. Der fingierte Artikel gehört zu einem der 34 Projekte, die seit wenigen Tagen in der "Galerie für Zeitgenössische Kunst" in Leipzig zu sehen sind. "Schrumpfende Städte 2 - Interventionen" lautet der Titel der Ausstellung, die neun Preisträger eines internationalen Ideenwettbewerbs, 14 Auftragsstudien und die Resultate von elf Künstlerstipendien präsentiert. Nach dem Wunsch der Ausstellungsmacher sollen die Projekte "beispielhaft Perspektiven für den kulturellen Umgang mit schrumpfenden Städten bieten". Der größte Teil der gezeigten Arbeiten widmet sich Orten in Ostdeutschland, vor allem im Großraum Halle/Leipzig. Neben den neu erstellten Arbeiten werden 30 Projekte und Konzepte aus den vergangenen Jahrzehnten kommentiert, die für wichtige Entwicklungen im Umgang mit dem Problem stehen.
Das weltweite Phänomen schrumpfender Städte war im vergangenen Jahr bereits Gegenstand einer Schau, die in den Berliner Kunst-Werken zu sehen war. Dort erfuhren die rund 20.000 Besucher, dass weltweit jede fünfte Stadt an Einwohnern verliert.
Betroffen sind vor allem Kommunen in hochindus-trialisierten Gebieten wie den USA und Westeuropa. Alleine im Osten Deutschlands stehen 1,3 Millionen Wohnungen leer. Aber auch in westdeutschen Großstädten sinkt die Zahl der Einwohner. Bei dieser Bestandsaufnahme - derzeit gastiert die Ausstellung in Halle - blieb die Frage unberührt, wie das Problem der schrumpfenden Städte gelöst werden könnte. Antworten auf diese Frage sollte der zweite Teil der Ausstellung liefern.
Deutschland im Jahre 2015: Der Bedarf an exotischen Pilzen wird von ostdeutschen Produzenten gedeckt. Die Anbaustätten befinden sich in Gebäuden, die im Jahre 2005 noch vom Abriss bedroht waren. Doch die Plattenbauten fanden eine neue Verwendung. Die Nasszellen leerstehender Wohnungen erwiesen sich als hervorragend geeignet für die Pilzzucht.
Diese Vision mit dem Projektnamen "Bau an!" wurde vom Berliner Designbüro anschlaege.de entwickelt. Der bizarre Vorschlag scheint paradigmatisch für einen neuen Umgang mit dem Problem schrumpfender Städte. "Das Phänomen kann nicht nur durch Abriss gelöst werden", sagte Philipp Oswalt, Kurator der Ausstellung. Auch reiche es nicht aus, nach der Kunst zu rufen, um die Leerräume zu beleben. "Stattdessen müssen andere Wege gefunden werden, um einen Umgang mit den Leerständen zu finden", sagt Oswalt. Bemerkenswert an dem Pilzprojekt ist auch, dass sich die Designer um eine wirtschaftliche Realisierbarkeit ihrer Idee Gedanken machten.
Dennoch will die Ausstellung nicht den Eindruck erwecken, Patentlösungen für das Problem schrumpfender Städte zu liefern. Dies widerspräche auch dem Charakter der Ausstellung. Denn die Schau ist, wie Galerieleiterin Barbara Steiner es formulierte, ein "Zwitter zwischen einer Sach- und Kunstausstellung". Wichtig sei auch die Präsentation der Vorschläge. Denn selbst die Galerie erscheint von außen wie ein Opfer der Schrumpfung. Der Bauzaun am Eingang täuscht bewusst: Er ist Teil des Ausstellungsdesigns.
Für eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema aber ist der Ausstellungsband ohnehin besser geeignet. Auf 900 Seiten finden sich Analysen, Diskussionsbeiträge und Projektbeschreibungen, die Handlungskonzepte für den Umgang mit dem Problem entwerfen.
Liverpool im Juni 2005: Im Stadtteil Toxteth steht plötzlich eine Herde Kühe auf der Straße. In einer Prozession werden die Tiere morgens aus ihrem Stall auf eine "Weide" geführt, einem ungenutzten Grünstreifen inmitten von Wohnhäusern und Industrieanlagen. Die von den Kühen produzierte Milch soll anschließend verkauft und der anfallende Dung in einer Biogasanlage verwertet werden. Das Projekt "COW the udder way" will auf diese Weise zeigen, dass die vielen brachliegenden Flächen, allein in Liverpool sind es 390 Hektar, nicht so lange ungenutzt bleiben müssen, bis ein Investor mit einer dicken Brieftasche kommt. Die Bewohner selbst sollen dagegen die Initiative ergreifen und den Raum nutzen.
Das Kuhprojekt steht symptomatisch für die Entdeckung neuer gesellschaftlicher Akteure. Diese sollen, wie Nikolaus Kuhnert und Anh-Linh Nogh von der Zeitschrift Archplus fordern, als "aktives, problembewusstes soziales Subjekt" fungierten. Darin spiegelt sich nach Ansicht von Kuhnert und Nogh auch ein neues Politikverständnis. Während die städtebauliche Entwicklung früher als rein staatliche Planungsaufgabe verstanden worden sei, der Neoliberalismus hingegen einen Rückzug des Staates propagiert habe, habe sich zuletzt ein Verständnis durchgesetzt, das vom gemeinsamen Handeln verschiedener Akteure ausgehe.
Dafür hat sich im politischen Diskurs der Begriff Governance eingebürgert, der von einer Handlungstrias aus Staat, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft ausgeht. Dass von den drei genannten Akteuren derzeit die Zivilgesellschaft übrig bleibt, hat verschiedene Gründe. Nach Ansicht Philipp Oswalts fehlt es Deutschland nicht unbedingt an Geld, sondern an politischen Instrumentarien, um mit leerstehenden Gebäuden und Brachflächen umzugehen. Mit dem gegenwärtigen Verständnis von Eigentum sei es unvereinbar, ungenutzte Flächen für eine neue Nutzung einfach freizugeben. Ebenfalls sei es paradox, mit den Mitteln des Stadtumbaus Ost den Abriss von Plattenbauten zu finanzieren und gleichzeitig mit der (nun zwar auslaufenden) Eigenheimzulage die weitere Zersiedelung der Landschaft zu fördern, wie es in den vergangenen Jahren geschehen ist. Aufgabe der Politik müsse es sein, politische Instrumente zur Lösung des Problems zu entwickeln.
Bedeutet dieser Mangel an Lösungen nun, dass die Entvölkerung der einstigen Städte teilnahmslos hingenommen werden muss? Nicht unbedingt, wie das Projekt "Ich bin drin" zeigt. Deutschland im Jahre 2050 ist demnach ein kolonisiertes Land aus ethnischen Archipelen. Auch ein Verdienst des fiktiven Vereines i.b.d. (Ich bin drin), der sich zum Ziel gesetzt hatte, "eine Strategie der illegalen Einwanderung zu fördern". Dazu trug unter anderem ein umgebauter Bananentransporter bei, der eine "angenehme, risikoarme Flucht" nach Deutschland ermöglichen sollte. Bleibt für den Verein nur zu hoffen, dass die Chinesen nichts gegen illegale Einwanderer haben.
Ausstellung: "Schrumpfende Städte 2 - Interventionen".
Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig (GfZK)
Karl-Tauchnitz-Straße 11, 04107 Leipzig,
www.gfzk.de